© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Eine nationale Angelegenheit
Neuer deutscher Analphabetismus: Die schulische Ausbildung im Lesen und Schreiben ist ungenügend
Heino Bosselmann

Wie weit die kultuspolitischen Wahrnehmungen von der Realität an deutschen Schulen entfernt sind, zeigt sich an einer Pressemitteilung des Rates für deutsche Rechtschreibung von Ende November. Darin wird klargestellt, daß ungefähr zwanzig Prozent der 15jährigen in Deutschland als Analphabeten gelten müssen, „ein Zustand, der nicht hingenommen werden darf“. Gründe dafür lägen darin, daß „didaktisch an die jeweiligen Jahrgangsstufen angepaßte Konzepte rar seien“ und „oftmals der betreffende Sachverhalt eins zu eins aus dem amtlichen Regelwerk in die Schulbücher kopiert wird.“ Der Ratsvorsitzende Hans Zehetmair, exponierter Vertreter einer ganz anderen Bildungsgeneration, mahnt an, Rechtschreibung sei kein Gegenstand, der in Diktaten erlernt werde, sondern gemeinsamer Anstrengung bedarf, insbesondere einer stärkeren Rolle in der Schule und Lehrerausbildung.

Abgesehen davon, daß Orthographie sehr wohl in gut vorbereiten Diktaten erlernt werden kann, wird es Zeit für viel lauteren Kulturalarm. Während immer mehr Schüler auf dem Gymnasium aus politischen Gründen zu einer nominellen Hochschulreife durchgewinkt werden, mit der allerdings dreißig Prozent sogar das Bachelor-Studium abbrechen, weil ihre intellektuelle Belastbarkeit dazu nicht ausreicht, entsteht an den Schulen ein agrammatisches Milieu, das es seit Einführung der Schulpflicht in Deutschland noch nie so skandalös gegeben haben dürfte.

Verantwortlich dafür ist die seit den Siebzigern im Westen betriebene und nach der Wiedervereinigung noch forcierte Reformpolitik in der Schule, der es eher auf deklarierte Abschlüsse anstatt auf erarbeitete Qualifikationen ankommt. Für die Rechtschreibfähigkeiten erwies es sich als Desaster, daß innerhalb der meisten Grundschulen eine systematische und früh einsetzende Ausbildung im Lesen und Schreiben kaum mehr stattfindet. Allein die abgeschlossene Kenntnis des Alphabets verschiebt sich immer weiter nach hinten. Kannten die Kinder in den Siebzigern schon in der ersten Klasse alle Buchstaben, so ist dieses Ziel heute frühestens im Verlaufe der zweiten erreicht, selbstverständlich meist ohne „Notendruck“, also ohne verifizierbare Leistungsbewertung.

Die allermeisten Lehrbücher des Faches Deutsch dienen sich mit kunterbunten Pinnwänden oder der Computergraphik nachempfundenen Layouts einem als schülerfreundlich empfundenen Geschmack an, der auf Systematik und Substanz weitgehend verzichtet und in seinem wirren Erscheinungsbild eher noch ADHS-Symptome verstärken dürfte. Dem reinen rechtschreiblichen und grammatischen Lernen vorbehaltene Bücher gibt es, abgesehen von schmalen Übungsheften, überhaupt nicht mehr, weshalb engagierte Lehrer, denen Muttersprache am Herzen liegt, schon auf Lehrwerke des Faches „Deutsch als Fremdsprache“ zurückgreifen, also Materialien für den Ausländerunterricht nutzen, weil diese noch sprachwissenschaftlichen Ordnungsprinzipien folgen und handhabbare Übungen anbieten.

Zum Vergleich: Innerhalb der urbanen Bevölkerung Indiens sind etwa 87 Prozent der Männer und 73 Prozent der Frauen alphabetisiert. Das läge über deutschem Niveau, immer in Rechnung gestellt, daß funktionaler Analphabetismus bei uns trotz moderner Schulbildung präsent ist und laut Unesco-Übereinkunft zwar meist noch das Schreiben des eigenen Namens und das Verständnis von Worten und Satzteilen ermöglicht, den alltäglichen Gebrauch von Schrift und Sprache aber nicht mehr gewährleisten kann.

Während ebenso wie die Kultusbehörden der Rat für Rechschreibung wiederum die vermeintlich im Stich gelassenen bildungsfernen Schichten mystifiziert, in denen zu wenig vorgelesen würde, haben nahezu alle Schulbuchverlage die Produktion von Lesebüchern eingestellt, weil Literatur nur noch „integrativ“, das heißt wohl nebenher, behandelt wird. Gerade Lesebücher waren im vorigen Jahrhundert jedoch echte Institutionen erster Lektüre- und Spracherfahrungen, bevor sie in der Gegenwart zu bibliophilen Sammlerstücken wurden. Überdies nimmt die Pflichtlektüre von sogenannten Ganzschriften, also Büchern ab. Vielen Gymnasien reicht als Minimum eine einzige pro Jahr und Klasse!

Nach dem Hilferuf des Rechschreib-rates wird sicher als erstes mehr Geld verlangt. Wenngleich eine großzügigere finanzielle Ausstattung bei kluger Politik so sachdienlich wäre, wie sie nach Kassenlage jedoch unmöglich erscheint, käme es vorrangiger auf die Sicherstellung klarer Verbindlichkeiten, Standards und Curricula an, die dem verworrenen und politisch partikularen Bildungsföderalismus von jeher ein Greuel sind. Schule und Lehrer sollten zudem einem höheren Revisionsdruck der Schulaufsichtsbehörden ausgesetzt sein, damit die gravierenden Probleme nicht erst dem Rechtschreibrat auffallen müssen, sondern bereits rechtzeitig in den Ministerien bemerkt werden. Eine kritische Schulaufsicht, die diesen Namen verdient, gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr, ebensowenig wie eine echte Sprachausbildung für Lehrer.

Welchen Wert die Rechtschreibkompetenz in der Auffassung der Kultusbürokraten beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern hat, einem Bundesland mit 85.000 erwachsenen funktionalen Analphabeten, zeigt die Maßgabe, daß Fehlerquoten dort wie anderswo im schriftlichen Deutsch-Abitur – im Gegensatz zu den Fremdsprachenprüfungen – keine Rolle mehr spielen. Bei Aufsätzen, deren Verständnis durch Fehler im sprachlichen Elementarbereich schwer beeinträchtigt ist, können allenfalls ein bis zwei Notenpunkte abgezogen werden. Ein vollständig radebrechender Text, dem vom Korrektor aber sehr gute inhaltliche Qualität attestiert wird, kann also mit dreizehn von maximal fünfzehn Notenpunkten immer noch als sehr gut bewertet durchgehen.

Ganz so wie der Sprache ein weit höherer Wert in der Nationalkultur beigemessen werden müßte, sollte Bildung, statt Experimentierfeld der Bundesländer und ihrer verzweigten Behörden zu sein, endlich nationale Angelegenheit werden. Improvisationen mit irreparablen Auswirkungen, wie etwa das „Schreiben durch Lesen“ nach dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen oder die fatale Tendenz, sogar die Schreibschrift abschaffen zu wollen, müßten schleunigst beendet werden.

Foto: Grundschüler: Die vollständige Kenntnis des Alphabets verschiebt sich immer weiter nach hinten, selbstverständlich ohne „Notendruck“

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