© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Die schlimmste Reise auf der Welt
Expedition: Vor hundert Jahren erreichte Amundsen als erster Mensch den Südpol
Markus Brandstetter

Am 14. Dezember 1911, um drei Uhr nachmittags und bei strahlendem Sonnenschein, erreichten der Norweger Roald Amundsen (1872–1928) und seine vier Gefährten als erste Menschen den geographischen Südpol. Sie pflanzten die norwegische Flagge in den Schnee, benannten die Eiswüste um sie herum nach ihrem König „Haakon-VII.-Plateau“ und bestimmten viele Male ihre Position, um sicherzugehen, daß sie auch wirklich am Südpol standen.

Drei Tage später spannten die Norweger ihre Hunde wieder vor die Schlitten. Am 26. Januar 1912 trafen sie in ihrer Basisstation am Eismeer wieder ein. Sie hatten in genau 99 Tagen 3.000 Kilometer – das entspricht der Strecke von Hamburg nach Gibraltar – auf Skiern zurückgelegt. Dabei mußten sie zweimal 3.000 Höhenmeter und einen 50 Kilometer langen Gletscher voller Spalten und Eisbrüche mit Schlitten überwinden, deren jeder 400 Kilo wog. Als Amundsen nach Hause segelte, hatte er keinen Mann verloren, ja nicht einmal einen schweren Unfall zu verzeichnen. Seine Südpol-Expedition ist eine der erfolgreichsten in der Geschichte der Menschheit gewesen und hat bewiesen, daß eine Handvoll entschlossener und gut trainierter Männer mit dem richtigen Charakter und der entsprechenden Ausrüstung das scheinbar Menschenunmögliche vollbringen kann.

Trotzdem kommt den meisten Menschen, wenn sie an den Südpol denken, nicht Amundsen in den Sinn, sondern Robert Scott (1868–1912), ein britischer Polarforscher und Marinekapitän, der sich mit Amundsen ein Wettrennen zum Südpol lieferte. Scott gelangte vier Wochen nach Amundsen zum Pol, wo ihm der Anblick der norwegischen Fahne einen vernichtenden Schlag versetzte. Gebrochen und demoralisiert schleppten er und seine vier Begleiter sich zurück. Der Stärkste von ihnen starb noch am Gletscher.

Der zweite war Captain Oats, der irgendwann aus dem Zelt in den tobenden Blizzard hinausging, um seinen Kameraden nicht mehr zur Last zu fallen, wobei er die Worte sprach, die seither jedes britische Schulkind lernt: „I am
just going outside and may be some time“ („Ich gehe einfach mal hinaus, und es könnte eine Weile dauern“). Scott und seine letzten beiden Gefährten starben 14 Tage später und 25 Kilometer weiter in ihrem Zelt – keine 20 Kilometer von dem Nahrungs- und Brennstoffdepot entfernt, das sie gerettet hätte.

Nach seinem Tod wurde Scott unverzüglich zu einem Helden antiker Größe befördert. Das sterbende Empire brauchte Helden, und hier war genau der richtige: Ein britischer Offizier und Gentleman, der im Ringen mit einem skandinavischen Freibeuter ohne Sportsgeist und Fairneß tragisch, aber edel zugrunde gegangen war.

Sechzig Jahre dauerte es, bis Zweifel an dieser Version laut wurden, dabei hatte Apsley Cherry-Garrard, ein Mitglied von Scotts Expedition, bereits 1922 eingestanden, daß Scott keinen Sinn für technische Details, langwierige Vorbereitungen oder sorgfältige Planung besaß. Schon während Scotts erster Südpolreise (1901–1904) war vieles schiefgegangen, hatte keiner der Engländer mit den Hundeschlitten umgehen können, hatte niemand gewußt, wie man Paraffinlampen und Primuskocher bedient und die Zelte aufstellt, war kein Stück der Ausrüstung vorher getestet worden.

1979 veröffentlichte der britische Journalist Roland Huntford dann ein Buch, das mit der Legende vom edlen Helden Scott gründlich aufräumte und eine bittere Kontroverse entfachte, die bis heute unvermindert anhält. Huntford verglich die norwegische und die britische Expedition bis ins kleinste Detail und kam zu dem Schluß, daß Scott ein ehrgeiziger und charismatischer Manipulator gewesen sei, der als erster am Südpol sein wollte, um in der Welt voranzukommen.

Huntford bekräftigte außerdem, was Cherry-Garrard nur vorsichtig angedeutet hatte, nämlich daß Scott ein unsystematischer Pfuscher ohne Führungsqualitäten gewesen sei, der zu Panikattacken, Entscheidungsunfähigkeit und wochenlangen Depressionen neigte. Amundsen dagegen war ein durch und durch rationaler, methodischer und bodenständiger Praktiker, der sich 15 Jahre lang auf die Reise zum Pol vorbereitet und bei der ersten Befahrung der Nordwestpassage von den Eskimos gelernt hatte, wie man in der Arktis überlebt.

Abgesehen davon, daß Amundsen auch noch der bessere Anführer war, lagen die Gründe für den Erfolg der Norweger tatsächlich in den technischen Details. Alle Norweger konnten skilaufen. Während die Briten die längste Zeit nicht wußten, ob sie nun mit Motorschlitten, Ponys und/oder Schlittenhunden die ersten 700 Kilometer bis zum Transantarktischen Gebirge zurücklegen sollten (danach sollte es sowieso zu Fuß weitergehen), setzte Amundsen über die ganze Distanz ausschließlich auf seine Huskys. Bereits die ersten Kilometer zeigten, daß Amundsen recht hatte: Scotts Ponys sanken bis zum Bauch im Schnee ein, mußten ihr zentnerschweres Futter ziehen und litten viel mehr unter der Kälte als Amundsens Hunde, die sich abends einfach im Schnee zusammenrollten.

Die verloren geglaubten Fotografien von Scotts Expedition, die vor kurzem wieder aufgetaucht sind, zeigen zum ersten Mal, wie Scotts Männer jeden Abend meterhohe Wände aus Schneeziegeln errichten mußten, um die Ponys vor Wind und Kälte zu schützen. Nachdem sie alle Pferde erschossen hatten, zogen Scott und seine Männer die Schlitten selbst.

Aber schlimmer noch als Wetter, Kälte, Frustration und die unmenschlichen Anstrengungen, die die Engländer erduldeten, war die Tatsache, daß ihre Ration auf dem Rückweg am Tag nur etwa 3.900 Kalorien lieferte, sie aber 5.500 Kalorien verbrauchten. Jeder Mensch wäre bei diesem Nahrungsmangel auf die Dauer zugrunde gegangen. Daß sie überhaupt so lange durchhielten, sagt viel über Scott und seine Gefährten aus.

Das Rennen zum Südpol bewegt die Gemüter bis zum heutigen Tag. Kaum ein Jahr vergeht ohne ein Buch, das auf die eine oder andere Weise beweisen will, daß nicht Scott an seinem Untergang schuld war, sondern Wetter, Ausrüstung und schieres Pech. Aber Amundsen hatte dasselbe Wetter wie Scott, für die Ausrüstung ist der Expeditionsleiter verantwortlich, und der andere Name für Pech ist mangelhafte Vorbereitung.

Amundsen brachte der Sieg am Pol zwar Ruhm, aber kein Glück. Scotts Tod überschattete seinen Triumph, den Briten galt er von da an als ehrloser Schurke. Weder mit Frauen noch mit Geld, noch mit seinen Folgeexpeditionen hatte er viel Erfolg. Bankrott, kinderlos, früh gealtert, krank und streitsüchtig blieb er jedoch Entdecker bis zuletzt. Als er 1926 mit dem Zeppelin über den Nordpol flog, hatte er beide Pole als erster erreicht. Am 18. Juni 1928 flog er auf einer Mission zur Rettung des italienischen Luftschiffpioniers Umberto Nobile mit einem überladenen Flugboot in die Wolken über der Barentssee hinein, aus denen er nie mehr zurückkehrte. Der Tod des größten Polarforschers aller Zeiten ist bis heute ein Rätsel.

David M. Wilson: The Lost Photographs of Captain Scott:. Unseen Images from the Legendary Antarctic Expedition. Little, Brown and Company, 2011

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