© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

„Wir werden steigen“
Vereinte Melancholie: Ein Roman über Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze
Richard Stoltz

Als Romantitel suggeriert „Der Kaufmann und der Dichter“ eine Dichotomie, Unvereinbarkeit: Poet und Zahlenmensch, Nihilist und gewinn-orientierter Tatmensch. So das Klischee. Allerdings handelt der Roman von der Freundschaft des Dichters Gottfried Benn (1886–1956) zu dem Kaufmann und Kunstmäzen Friedrich Wilhelm Oelze (1891–1978), die ein Vierteljahrhundert hielt.

Denn Benns Erkenntnis: „Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück“, traf auf Oelze einfach nicht zu. Der Bremer Großkaufmann Oelze war intelligent und hatte (ungeliebte) Arbeit, er mußte die Kaffeefirma des Vaters fortführen, war also einigermaßen unglücklich. Ein weiteres Mißgeschick, übergroße Sensibilität, machte den Melancholiker perfekt. So entstand problemlos ein Bezug zum düsteren Dichter Benn. Oelze wurde sein Briefpartner, Vertrauter, Beichtvater, Mäzen und Archivar, seine „wichtigste Lebensbeziehung“ und „die einzige vollkommene Partnerschaft“ (Fritz J. Raddatz). So ist es in zahlreichen Biographien und einer dreibändigen Briefausgabe (Benn an Oelze) dokumentiert, und so schildert es die promovierte Sozialwissenschaftlerin und Dozentin Marlis Thiel in ihrem Roman.

Was bringt der Neues? Nun, Thiels Erzählung ist keine Paraphrase der Briefe, die werden nur selten bemüht. Sie unterwirft die zwei Exzentriker dem direkten „Vergleich“, schaltet zwischen beider Welten hin und her. So entstehen Assoziationen im Detail, zeigt sich Verbindendes und Abstoßendes unmittelbar. Einfühlsam schildert sie Oelzes Einsamkeit und Weltekel, die Entfremdung des homoerotischen Ästheten von der Familie: „Gleich dem Dichter in Berlin staunte er darüber, wie alles weiterging, wunderte sich über die Zuversicht derer, die auch die schwersten Schläge noch aushielten.“

Deutlich auch, was ihn von Benn trennte: Hier der kultivierte Kaufmann, der Goethe-, Thomas-Mann- und Rilke-Verehrer, da der mit Barbarentum kokettierende Dichter. Hier der Bremer Asket, dort der Berliner Dionysos, der Sahnetorte, Rum und Rauchwaren liebte (die Autorin schildert das ohne neumodisches Wellness-Naserümpfen, im Gegensatz zu manchem Biographen). Einerseits der Träumer vom idealer Eros, wie in Thomas Manns „Tod in Venedig“ zu finden, anderseits der Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, der alles unromantisch „beim Namen“ nannte, ständig Affären unterhielt und Prostituierten die Wahl ließ, für ärztliche Dienste in bar oder „Naturalien“ zu zahlen.

Auch politisch gingen sie 1933 getrennte Wege. Während Gottfried Benn in den NS-Staat künstlerischen und transzendentalen Aufbruch projizierte, löst er bei Oelze Angst aus. Allerdings läßt die Autorin ihn den kommenden Terror etwas zu exakt vorausahnen. So präzise, wie es eigentlich nur rückwirkend möglich ist. Ohnehin überdacht Thiel die Erzählung an mancher Stelle mit Zeit-Panoramen, schnellt vor bis in die späten Sechziger, in die Zeit der Hippies und des Living Theatre.

Die Handlung des Romans umspannt die Zeit von 1932, als der exzellente Goethe-Kenner Oelze anläßlich Benns Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“ einen ersten Brief an den von ihm verehrten Dichter schrieb, bis zu Benns Tod im Juli 1956. Dabei zeigt sich, wie die Machtverhältnisse und Abhängigkeiten sich im Lauf der Jahre um 180 Grad wandten: Ist der Bremer Kaufmann zunächst ein höriger Fan, scheint der Dichter bald mehr und mehr auf ihn angewiesen – als Mäzen, Ansprechpartner und Archivar. So bewahrte Oelze alle zwischen 1938 und 1945 von Benn verfaßten Manuskripte in seinem Bremer Haus auf, um sie vor dem Zugriff der Gestapo zu schützen.

Nach dem Krieg – Oelzes Geschäfte erlebten bald einen ungeheuren Aufschwung, Benn durfte ab 1948 wieder in Deutschland veröffentlichen – blieben beide befreundet und korrespondierten weiter miteinander; insgesamt liegen heute über 700 Briefe vor, die Oelze akribisch archiviert hat. 1950 erschien Benns Autobiographie „Doppelleben“, 1951 erhielt der Lyriker als erster den neu geschaffenen Georg-Büchner-Preis.

Diese Umkehrung spitzt sich in Benns letztem Lebensabschnitt noch einmal zu, von der Autorin eindrucksvoll geschildert: Der einstige Apologet von „Zucht und Züchtung“ wird altersmilde, nachsichtig gegenüber Zeitgeist, künstlerischer Formstrenge und sich selbst. Die Angst vor steigendem Alter verdrängt er durch immer jüngere Geliebte.

Der Kaufmann hingegen flieht die Todesnähe durch Steigerung der Askese: den alternden Körper noch konsequenter ignorieren, sich noch tiefer in Arbeitswut stürzen. Selbst Zusammenbrüche irritieren ihn nicht. „Haben Sie doch ein Erbarmen!“ ruft Benn dem Freund zu. „Geben Sie dem Körper, was er braucht.“ Nämlich Ruhe, Sex und Genußmittel. Der Dichter erkennt jetzt in der Weltgeschichte eine einzige Drangsalierung des Körpers, im Namen der Politik, Justiz und Ideologie.

Umgekehrt entfremdete Oelze sich dem Spätwerk des Dichters, seiner nachlassenden Formstrenge. So stieß er den selbstkreierten Künstlergott vom Thron. Den quälte zuletzt ein Rückenmarkskrebs, zerstörte ihn so, wie im Frühwerk „Morgue“ vorweggenommen. In Benns letztem Schreiben an den Freund heißt es: „Jene Stunde (…) wird keine Schrecken haben, seien Sie beruhigt, wir werden nicht fallen wir werden steigen – Ihr B.“ Thiel deutet dies als irrationales Hoffen auf Genesung. Wahrscheinlicher aber ist ein Hinweis auf Unsterblichkeit, an die Gottfried Benn, allem Nihilismus zum Trotz, geglaubt hat (JF 18/11).

Marlis Thiel: Der Kaufmann und der Dichter. Donat Verlag, Bremen 2011, gebunden, 240 Seiten, 18,80 Euro

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