© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Übersinnliche Einflüsterer
Hellseher, Astrologen und die Mächtigen
Werner Olles

Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 1958 glaubten 49 Prozent der Befragten mit Hauptschulabschluß, 63 Prozent mit Mittlerer Reife und 70 Prozent mit Abitur bzw. Studium an die Existenz des „Zweiten Gesichts“, also an Hellseherei und Astrologie. Bezüglich der Gesamtbevölkerung ergab die Umfrage, daß 53 Prozent der Westdeutschen okkultgläubig waren, während 36 Prozent dies verneinten und 11 Prozent sich unentschieden zeigten.

Besonders interessant an diesem Ergebnis ist das Faktum, daß mit zunehmender Bildung ganz offensichtlich die Bereitschaft wächst, sich ernsthaft mit Okkultismus, Geisterbeschwörungen, Prophezeiungen, Wahrsagerei und Visionen auseinanderzusetzen. 1964 kam eine ähnliche Untersuchung in Großbritannien übrigens zu entsprechenden Resultaten. Leider wurde jedoch auch dabei versäumt, einmal genauer zu analysieren, warum gerade bei höherer Schulbildung und in intelligenteren Schichten die Neigung zu Phänomenen wie Okkultgläubigkeit eklatant zunimmt, während die breite, ungebildetere Masse sich dazu eher ablehnend bis ambivalent verhält.

Ordnet man Staatsmänner und Politiker nun der Einfachheit halber der Gruppe der Abiturienten und Studierten zu, ergibt sich hier ein Schätzwert von etwa 15 Prozent Okkultgläubigen. Zwar liegen hier keine genauen und verläßlichen Daten und Meßwerte vor, doch daß Herrscher und Politiker zu allen Zeiten Rat bei Astrologen und Hellsehern gesucht haben, ist inzwischen weitgehend bekannt.

Stephan Berndt, der seit 15 Jahren zum Thema Prophetie forscht und mit „Prophezeiungen zur Zukunft Europas“ (2009) und einer viel beachteten Biographie des berühmten 1959 verstorbenen bayrischen Hellsehers Alois Irlmaier (2009) bereits zwei Bücher vorgelegt hat, die sich auf populärwissenschaftliche Weise mit diesem Thema beschäftigen, versucht mit seinem neuen Buch „Hellseher und Astrologen im Dienste der Macht“ nun den Leser in diese bislang viel zu wenig beachtete, verborgene Agenda in der Geschichte zu führen. Dabei spannt der Autor den Bogen von Wallenstein und Napoleon über Hitler, Himmler und den Okkultismus im nationalsozialistischen Dritten Reich bis zu den Wahrsagerinnen der Bonner und Berliner Republik.

Doch galten Seher und Orakel längst nicht zu allen Zeiten als Tabu. Aus der griechischen Antike sind die Befragungen des Orakels von Delphi bekannt, bei den Kelten und den alten Germanen galten Seherinnen als „göttliche Wesen“, und aus der Edda, dem im 13. Jahrhundert auf Island aufgezeichneten Lehrbuch der Germanen kennt man das Zusammenspiel zwischen dem nordischen Hauptgott Odin und seinen beiden Raben Hugin („der Gedanke“) und Munin („die Erinnerung“), die dieser allmorgendlich aussendet, damit sie beobachten, was auf der Welt so vor sich geht. Kehren sie am Abend zurück, setzen sie sich auf Odins Schultern und berichten, was sie gesehen haben.

Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der okkulten Zukunftsschau sind die Inkas, in deren Kultur die Wahrsagung ein zentrales Element war. So unternahmen die Inkas nichts, ohne sich zuvor Auskunft über die Aussicht des Vorhabens einzuholen. Eine Aufgabe, die natürlich den Priestern zufiel, die sich dabei einer der ältesten, weltweiten Orakeltechniken überhaupt bedienten, indem sie aus den Eingeweiden geopferter Tiere lasen, die Bewegung von Spinnen beobachteten oder mit Hilfe von Kokablättern eine Art Losorakel praktizierten.

Auch das Mittelalter stand okkulten Zukunftserkundungen keineswegs ablehnend gegenüber. Michel de Nostredame, Arzt, Apotheker und Astrologe, besser bekannt als Nostradamus, ist der wohl weltweit berühmteste Seher. Seine Dienste stellte er der Königin Frankreichs zur Verfügung. Die mystisch-religiösen Neigungen Rußlands bescherten dem Zarenreich den sibirischen Mönch Rasputin, der dem jungen Zarensohn Alexej Nikolajewitsch Romanow, einem Bluter, durch wundersame Heilungen mehrmals das Leben rettete und nebenbei großen politischen Einfluß auf einen der bedeutendsten Herrscher seiner Zeit ausübte.

Ein besonderes Kapitel widmet Berndt den Hellsehern und Astrologen im Dritten Reich. Die Frage, ob der Nationalsozialismus tatsächlich unter okkulten Einflüssen stand und welche Rolle geheimnisvolle Gruppierungen wie die Thule-Gesellschaft, der Bühnen-Hellseher Erik Jan Hanussen, der Astrologe Karl Ernst Krafft oder Himmlers Hofastrologe Wilhelm Theodor Wulff realiter spielten, gerät bei der umfangreichen Faktensuche jedoch leider ein wenig aus dem Blickfeld. Auch erfährt der Leser nichts über den seltsamen völkischen Seher „Weisthor“, der immerhin als „Himmlers Rasputin“ galt. Dafür tritt über Konrad Adenauer und seine Beziehungen zum 1959 verstorbenen Hellseher Alois Irlmaier und zur damals sehr bekannten rheinischen Wahrsagerin Buchela, einer Zigeunerin, deren Rat ganze Generationen von Politikern suchten, aber auch zu Leonid Breschnews Wunderheilerin und Seherin Dschuna, Ronald Reagans Hellseherin Jeane Dixon, die unter anderem die Ermordung Präsident Kennedys voraussagte, und François Mitterands Astrologin Elizabeth Teissier manch Erstaunliches und Skurriles zutage.

Stephan Berndt: Hellseher und Astrologen im Dienste der Macht.Die geheimen Einflüsse auf Politiker und Herrscher. Ares Verlag, Graz 2011, gebunden, 392 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Grigori Rasputin (1869–1916), einflußreich am russischen Hof: Hellsichtiger Geistheiler oder Scharlatan?

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