© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

Rätselhafter Wille zur nationalen Selbstbehauptung
Zwei populäre Darstellungen zur Geschichte Preußens zwischen 1806 und 1815 ergänzen antiquarische Standardwerke
Timo Herrmann

Die Geschichte Preußens zwischen 1806 und 1815 gilt als ausgezeichnet erforscht. Auch bedeutende neue Quellen dürften das Bild dieser Epoche nicht mehr grundlegend ändern. Einzig und allein rätselhaft ist jedoch, allen modischen Erkundungen des Phänomens „Nationalismus“ zum Trotz, warum sich eine große Zahl von Bürgern noch während Napoleons russischem Desaster bereit fand, Leib und Leben zu riskieren, um sich von der französischen Fremdherrschaft zu befreien.

Dies ist um so erklärungsbedürftiger, als zuhauf Zeugnisse vorliegen, die 1806/07 von überall her einen freundlich verhaltenen Empfang der Truppen des Welteroberers meldeten. Die Einwohner der preußischen Hauptstadt Berlin taten sich dabei besonders hervor, den einmarschierenden Franzosen zuzujubeln. Nicht anders waren sie zuvor im Westen und Süden begrüßt worden, wo sich die deutschen Potentaten unter dem Dach des „Rheinbundes“ sogar zu politisch-militärischen Hilfswilligen Napoleons erniedrigten. Wäre da nicht der Widerstand Englands und Rußlands gegen die kontinentale Hegemonie der Franzosen dazwischengekommen – die Preußen und die übrigen Deutschen hätten sich vielleicht schon vor 200 Jahren zu „guten Europäern“ abrichten lassen.

Was dann im Laufe von nur fünf Jahren den Bewußtseins- und Gesinnungswandel hin zur nationalen Selbstbehauptung, zu Gemeinschaftsgefühl samt Opfersinn bewirkte und stabilisierte, ist tatsächlich ein Mirakel. Mit einem nebulösen patriotischen „Idealismus“, der wohl unvermutet vom Himmel gefallen sein müßte, ist jedenfalls kein Licht ins Dunkel des plötzlichen patriotischen Furors zu bringen. Schon Arno Schmidt höhnte in seiner Fouqué-Biographie (1958), mit der nationaler Begeisterung entsprungenen Freiwilligkeit sei es 1813 nicht weit her gewesen. Zumindest nicht in jenen studentischen Kreisen, die sich hinterher zur antifranzösischen Avantgarde stilisierten.

Als Schmidt an seinem Lebensbild Fouqués, der mit Schwert und Leier von 1813 bis 1815 „dabei“ war, bastelte, lag ein erstes schlüssiges Deutungsangebot, das seine Vermutungen partiell bestätigte, noch in der Schublade des Historikers Rudolf Ibbeken. Der hatte in den 1930ern an der Berliner Universität sozialhistorisch dicke Bretter gebohrt und herausgefunden, daß weniger „die Gebildeten“ als die Angehörigen des unteren Mittelstands, der materiell am schwersten von der Besatzungsherrschaft betroffen war, am häufigsten freiwillig zu den Fahnen eilten, um diese Bedrückung abzuschütteln. Die Einschwörung aufs Eigene glückte also dort nachhaltig, wo von Fremden eine existentielle Bedrohung ausging. Ibbekens Studie erschien erst 1970 („Preußen 1807–1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit“), blieb aber bis heute weitgehend unbeachtet, obwohl ihre dezidiert materialistische Herleitung des Nationalbewußtseins dem Zeitgeist nach 1968 sehr entgegenkam.

Mario Kandil, der eine neue „Gesamtdarstellung“ über die Befreiungskriege vorlegt, hätte indes nahtlos an Ibbeken anknüpfen können. Promovierte er doch 1995 mit einer Untersuchung zum „sozialen Protest gegen das Napoleonische Herrschaftssystem“ im rechtsrheinischen Großherzogtum Berg. Und er berücksichtigt in seiner aktuellen Behandlung des Stoffes, die auch die Vorgeschichte zwischen 1806 und 1812 einbezieht, manche sozialen Momente des Abwehrkampfs. Etwa beim Kleinkrieg der Tiroler unter Andreas Hofers Führung, dessen Ursprung in der Angst vor militärischem Zwangsdienst und vor einem lebensgefährlichen Einsatz gegen spanische Rebellen zu suchen ist.

Oder bei dem Hinweis auf die „wirtschaftlichen Konsequenzen“ der Kontinentalsperre als „wesentliche Auslöser der Insurrektion“, die primär „Arbeiter und Bauern“ zum Widerstand aufstachelte. Aber dies sind leider nur sporadische Anmerkungen, die Kandil nicht aus dem Fahrwasser seiner Nacherzählung bekannter Standardwerke herauslotsen. Daß sein, neben Kurt von Raumer und Wolfgang Venohr, Hauptgewährsmann, der Heidelberger Neuhistoriker Willy Andreas, genau wie dessen Schwiegervater Erich Marcks, ein profilierter Verfechter der „Männer machen Geschichte“-Historiographie war, läßt ihn fernab von sozialhistorischen Gestaden steuern. Dabei hätte quellenkritische Sorgfalt es geboten, Andreas’ Werk von 1955 als Reprise einer in „Die Neue Propyläen Weltgeschichte“ von 1943 erschienenen Interpretation etwas vorsichtiger zu verwenden.

Mit solchen handwerklichen Unzulänglichkeiten schneidet Kandil gegenüber Thomas Kühns erneutem Anlauf, Preußens unglücklichen Krieg, von der Niederlage bei Jena und Auerstedt bis zum Tilsiter Frieden zu schildern, dennoch vergleichsweise gut ab. Denn Kühn, einstiger NVA-Berufssoldat des Jahrgangs 1951, erschreckt schon mit seinem Literaturverzeichnis. Das bis heute für die militärische Ereignisgeschichte, über die Kühn, abgesehen von einigen scharfsinnig-munteren Reflexionen über das ihm suspekte „Heldentum“ der Blücher, Scharnhorst et al., nirgends hinausgelangen will, maßgebliche und profunde Werk Oscar von Lettow-Vorbecks („Der Krieg von 1806/07“, Berlin 1891–1893) wird auf 1850 zurückdatiert und der Dreibänder bibliographisch auf einen Band geschrumpft. Auch die „Briefe und Aktenstücke“, die der Althistoriker Franz Rühl aus dem Staegemann-Nachlaß edierte, umfassen vier und nicht einen Band. „Staatskunst und Kriegshandwerk“, das Standardwerk des großen Gerhard Ritter, den Kandil übrigens mit dem kleinen Gerhard A. Ritter verwechselt, datiert Kühn zwar korrekt auf 1954, aber damals erschien nur der erste von vier Bänden, und der enthält zu den Ereignissen von 1806/07 fast nichts.

Und was soll unter „Archive“ der einsame Eintrag „Deutsches Zentralarchiv“? Dessen Abteilungen in Potsdam und Merseburg sind nach dem Untergang der DDR aufgelöst, dem Bundesarchiv und dem Geheimen Staatsarchiv Berlin eingegliedert worden. Wenn sie Kühn vor 1990 benutzte, hätte er wenigstens die Signaturen der eingesehenen Akten aufführen müssen. Was vielleicht nur entbehrlich ist, wenn man wie er auf jede Anmerkung, auf jeden Quellenbeleg konsequent verzichtet.

Wissenschaftlich verliert die über weite Passagen erfreulich akribisch referierende Arbeit eines Autors, der durchaus über Sachkenntnis verfügt, darum jeden Wert. Immerhin bietet Kühns Bändchen eine preiswerte Alternative zu dem antiquarisch seltenen Epos von Lettow-Vorbeck, genauso wie Kandil einen ersten Ersatz für die teure und schwer greifbare ältere Literatur zu den Befreiungskriegen offeriert.

Mario Kandil: Die deutsche Erhebung 1812–1815. Die Befreiungskriege gegen die französische Fremdherrschaft. Druffel & Vowinckel Verlag, Stegen 2011, gebunden, 240 Seiten, Abb., 19,90 Euro

Thomas Kühn: Preußens Gloria. Der Feldzug gegen Frankreich 1806 und 1807. Helios Verlag, Aachen 2011, gebunden, 241 Seiten, Abbildungen, 23,80 Euro

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