© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/11-01/12 / 23./30. Dezember 2011

Auf den Hund gekommen
England: Reisebeobachtungen jenseits des Politalltags / Zwischen Tradition und Political Correctness
Martin Schmidt

Engländer sind humorvoll, traditionsbewußt, von sachlich-nüchternem Wesen und tendenziell dünner Gestalt. Das sind nur einige der deutschen Klischees über die Inselbewohner im Westen Europas. Manche solcher Verallgemeinerungen lassen sich noch immer leicht bestätigen, während andere früher wohl einen wahren Kern besaßen, sich jedoch längst überlebt haben. In jedem Fall bietet das Studium kollektiver englischer Eigenschaften und Befindlichkeiten, wie es der Verfasser in den südenglischen Grafschaften Cornwall, Somerset und Devon betrieb, jede Menge Überraschendes.

Zumindest hier ist England sehr englisch geblieben, nicht nur hinsichtlich der einzigartigen Verbindung karger Hügellandschaften, schroffer Küsten und wilder Ponyherden, ehrfurchtgebietenden Burgen, pittoresken Ortschaften und Gärten. Der Reisende erlebt eine selbstverständliche Gastfreundschaft und alltägliche Freundlichkeit und vermag etwas von der fundamental anderen, durch und durch von Humor und Wortspielen geprägten Gesprächskultur der Engländer zu erahnen.

Vor allem die stark gestiegenen Immobilienpreise zeugen davon, wie sehr gerade die südwestlichen Grafschaften zu Rückzugsgebieten überwiegend älterer Engländer vor dem multikulturellen Alltag in den Ballungszentren im Großraum London und in Mittelengland geworden sind. Während dort die Präsenz von Indern, Pakistani und Farbigen aus allen Teilen des einstigen britischen Empires längst ein Ausmaß angenommen hat, das den Überfremdungsgrad von Frankfurt, dem Ruhrpott oder manchen Teilen Berlins, Stuttgarts und Münchens sogar noch übersteigt, scheint das Leben in der Provinz davon weit entfernt zu sein. Man klammert sich an die Region – alle Pläne, die althergebrachten Grafschaften in neuartigen größeren und kostengünstigeren Verwaltungseinheiten aufgehen zu lassen, scheiterten am erbitterten Widerstand der Bevölkerung –, genießt spazierengehend das Rentnerdasein, läßt den Blick – im Auto sitzen bleibend – von der Promenade übers Meer schweifen, arbeitet in den wenigen produzierenden Betrieben, im üppigeren Dienstleistungsgewerbe oder im Tourismus, spielt Cricket oder Golf und pflegt ganz allgemein sein Engländertum.

Schon seit Jahren läßt sich beobachten, wie der Union Jack nicht nur aus dem öffentlichen Raum Schottlands und Wales’ weitgehend verschwindet, sondern auch in England stark an Bedeutung verliert. Statt dessen wird an Gebäuden und in Gärten vielfach die weiße Fahne mit dem roten Georgskreuz gehißt. Der im 20. Jahrhundert eher unbedeutende St. George’s Day am 23. April erfreut sich als englischer Nationalfeiertag wachsender Beliebtheit. Er gibt Anlaß, den nationalen Selbstbesinnungsprozessen in den anderen Teilen der Insel trotzig entgegenzutreten nach dem Motto: Wenn ihr Schotten und Waliser nichts mehr mit Großbritannien zu tun haben wollt und euren eigenen Weg geht, so machen wir das eben auch.

Tatsächlich belegen Meinungsumfragen, daß immer mehr Engländer mit einer Unabhängigkeit Schottlands kein Problem hätten, zumal ihr Land in der Union nach wie vor der mit Abstand größte Nettozahler ist. Nicht wenige ziehen aus dem einst weitgehend anglisierten Südwales weg, um dem Zwang zum Erlernen der schwierigen walisischen Sprache zu entgehen, ohne die in dem kleinen keltischen Land heute keine berufliche Karriere mehr möglich ist.

Mit dem blau-weiß-roten Medienrummel um „Will and Kate“ und die königliche Hochzeit am 29. April sollten auch die unübersehbaren Risse im Staatsgebäude Großbritanniens gekittet werden. Wie erfolglos dieses Unterfangen ist, zeigte sich mit dem triumphalen Sieg der schottischen Nationalisten (SNP) bei der Regionalwahl im Mai dieses Jahres.

Das alles bestärkt den neuerlichen Stolz der Engländer, Engländer zu sein, gepaart allerdings mit tiefen, medial genährten Schuldgefühlen. Was in Deutschland durch die „Faschismuskeule“ bewirkt wurde, hat in England auf andere Weise, aber mit vergleichbaren Folgen die Empire-Vergangenheitsbewältigung erreicht. Die Leistungen des untergegangenen britischen Weltreiches treten gegenüber den Schattenseiten völlig in den Hintergrund.

Schotten und Waliser weisen als quasi ebenfalls kolonialisierte Völker den Engländern die alleinige Verantwortung zu, und die Lobbies der Migranten aus allen Teilen des einstigen Empires instrumentalisieren die Komplexe nachhaltig zur Durchsetzung eigener Interessen. Entsprechend sind farbige Gesichter in den Medien des Landes omnipräsent. Keine TV-Nachrichtensendung oder Seifenoper kommt ohne multikulturelles Personal aus. Versuche es auch mal anders zu machen, fallen einer Political Correctness zum Opfer, die mitunter rigider als in Deutschland ist.

Der Geschichtsunterricht an den Schulen hat längst nicht mehr allein die Vergangenheit Großbritanniens oder Europas zum Inhalt, sondern auch die Nationalgeschichten der wichtigsten überseeischen Zuwandererländer. Der Oktober ist in den Lehrplänen beispielsweise zum „Black History Month“ geworden. Mittlerweile dürfen im Dezember keine betrieblichen Weihnachtsfeiern mehr stattfinden und statt „Merry Christmas“-Grüßen nur noch Karten mit dem Aufdruck „Season’s Greetings“ verschickt werden, um die großen andersgläubigen Bevölkerungsteile „nicht auszuschließen“.

Auch sonst veränderte der Zeitgeist den englischen Alltag. Insbesondere die Sprache verzeichnete in bezug auf Wortschatz und Stilgefühl massive Substanzverluste, so daß immer mehr besorgte Bürger auf die Barrikaden gehen und die Einhaltung bewährter Standards des Oxford English gegenüber der unübersehbaren sprachlichen Amerikanisierung und den Zumutungen des „text messaging“ – also der SMS-Kurzsprache – einfordern.

Nicht minder verheerend erscheinen die Zustände im Bildungswesen, so daß weite Teile der bessergestellten Schichten mittlerweile vom staatlichen Schulwesen Abschied genommen haben und ihre Kinder auf die extrem teuren privaten Lehranstalten schicken. Gebühren von 10.000 Pfund pro Schuljahr sind keine Seltenheit. Erschreckend sind auch die Folgen der Fast-Food-Ernährung, die auf der Insel auf besonders wenig Ablehnung stößt. Jedenfalls gibt es der jüngsten Erhebung der europäischen Statistikbehörde Eurostat zufolge in Großbritannnien heute weit mehr Übergewichtige als im Rest der EU. Das Klischee vom hageren Engländer ist somit zweifellos überholt.

Anders verhält es sich mit dem sprichwörtlichen Traditions- und Geschichtsbewußtsein, jedenfalls dann, wenn man die gebildeten Ober- und Mittelschichten in den Blick nimmt. Dort gibt es ein großes Interesse für die Militärgeschichte, wie die entsprechenden Abteilungen in großen Buchhandelsketten wie Waterstone’s eindrucksvoll belegen.

Wer rund um das flämische Ypern, einen der Brennpunkte der entsetzlichen Grabenkämpfe des Ersten Weltkrieges, einen der zahlreichen Soldatenfriedhöfe besucht, wird mit Sicherheit Engländer treffen. Ja, es gibt in dieser Gegend einen respektablen englischen Tourismus, der auch große deutsche Soldatenfriedhöfe wie den in Langemarck einbezieht. Dort erlebt man Scharen geschichtskundiger, tiefbewegter Engländer und staunt über die vielen Kränze von britischen Schulklassen, Pfadfindern und anderen Gruppen. Deren Tenor ähnelte fast ausnahmslos dem einer Inschrift auf einem Kranz des Impington Village Colleges: „We will never forget those who died with honour and bravery für their country and what they believed in.“

Ebenso wie die Erinnerung an frühere Kriegstote der eigenen sowie gegnerischer Armeen genießt die Solidarität mit heutigen britischen Einheiten im auswärtigen Kriegseinsatz einen hohen Stellenwert. Egal wie die Kämpfe in Afghanistan politisch beurteilt werden, die Unterstützung der eigenen Soldaten ist ein Herzensanliegen, und Organisationen wie „Help for Heroes. Support for our Wounded“ (www.help-forheroes.org.uk) sind gesellschaftlich fest verankert.

Die ablehnende Haltung gegenüber der Europäischen Union ist weitgehend Konsens, ebenso der Spott über den schwächelnden Euro. Kein Wunder also, daß Premierminister David Cameron aufgrund seiner harten Haltung gegenüber einem neuen EU-Vertrag in Umfragen nach oben schnellt und erstmals seit Monaten mit 41 Prozent wieder vor Ed Milibands Labour Party liegt. Denn wenn es um die EU geht, haben die Engländer ihren Humor beiseite gestellt und setzen voll auf Sachlichkeit, Tradition und Unabhängigkeit.

Da stört es dann wenig, daß das britische Pfund nach langen Jahren wirtschaftlicher Fehlplanung und extremer Staatsverschuldung massiv an Wert verloren hat.

Foto: Neuer Stolz auf England: Englische Bulldogge eingehüllt in Georgs-kreuz-Flagge

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