© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/11-01/12 / 23./30. Dezember 2011

CD: G. Mahler
Die Sprache des Dirigenten
Jens Knorr

Gustav Mahler empfiehlt Herrn Klemperer als einen hervorragend guten und trotz seiner Jugend schon sehr routinierten Musiker, der zur Dirigentenlaufbahn prädestiniert ist. – Er verbürgt sich für den guten Ausfall eines Versuches mit ihm als Kapellmeister und ist gerne bereit, persönlich nähere Auskunft über ihn zu erteilen.“ Die Visitenkarte Mahlers mit der Notiz darauf öffnete dem jungen Musikstudenten und angehenden Dirigenten Otto Klemperer alle Türen zu einer großen Karriere. Der 1885 in Breslau geborene Klemperer trug bis zu seinem Tod 1973 eine Kopie dieser Karte in seiner Brieftasche.

Er, der als Zwanzigjähriger die Chorproben zur zweiten Symphonie begleitete und bei der Aufführung das Fernorchester leitete, bei einer Aufführung der Dritten die Trommel hinter der Bühne spielte, bei einer Aufführung der Sechsten die Celesta, der Mahlers Proben zur Siebenten und Achten beiwohnte, im ersten Konzert seiner Laufbahn die Vierte dirigierte – er setzte seit den zwanziger Jahren immer wieder Werke Mahlers auf seine Konzertprogramme, nicht alle, aber die Zweite immer wieder.

Mit dem London Philharmonia Orchestra, seinem Orchester, das sich, nachdem Produzent Walter Legge es aufgelöst hatte, als New Philharmonia Orchestra neu gründete, spielte Klemperer zwischen 1961 und 1968 Mahlers 2., 4., 7., 9. Symphonie, das „Lied von der Erde“ und fünf der Orchesterlieder ein. Die Aufnahmen sind legendär, Klassiker der Mahler-Diskographie und zum Ausklang des Mahler-Jubiläumsjahres von EMI France in hervorragender Tonqualität und Abmischung neu herausgebracht worden.

Der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer hat auf die erstaunliche Entwicklung Klemperers vom Schnell- zum Langsam-Dirigenten hingewiesen, der, den Zeittabellen in der Diskographie Peter Fülops zufolge, von der Zweiten sowohl die schnellste als auch die langsamste aller Aufnahmen dirigiert. Die musikalischen Strukturelemente in Mahlers Musik sprechen immer auch die Sprache des Dirigenten, der sie zum Sprechen bringt. Dieser hier kam zu der seinen in lebenslanger Auseinandersetzung mit den Kompositionen selbst und mit der Musik seines Jahrhunderts und mit dem Schicksal – wenn man das so nennen will –, das den Jahrhundertdirigenten heimgesucht hat, wie wohl kaum einen anderen.

Noch einmal und immer wieder irritiert die künstliche Naivität der Elisabeth Schwarzkopf mit dem Sopransolo der Vierten, schlägt die extreme, unfaßliche Bewegungsstarre der Siebten in den Bann, macht die in unendlicher Verlangsamung ausgehende Neunte so todessüchtig wie das „Lied von der Erde“ lebenssüchtig, weil Fritz Wunderlichs und Christa Ludwigs blühende Stimmen einfach kein Vergehen beschwören können, sondern immer nur ein Werden. Im „Trinklied vom Jammer der Erde“, dem Eröffnungssatz, gleicht Wunderlichs Singen der sich selbst verzehrenden Flamme – eine Metapher für Sänger, die im Singen mehr geben, als sie dürften, und ebensoviel, wie sie müssen: alles. Und Christa Ludwigs Stimme in den Orchesterliedern gleicht nur sich selbst.

Klemperers Einspielungen sind für jede Mahler-Sammlung obligatorisch, und die 6-CD-Box sei als preiswertes Geschenk nicht nur zum Christfest empfohlen.

Gustav Mahler: Symphonien EMI Music France, 2011 www.emimusic.fr

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