© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

CD: F. Wunderlich
An und über die Grenzen
Jens Knorr

Es war ein Fehler, daß sich der aufstrebende junge Tenor Fritz Wunderlich vertraglich an die Electrola gebunden hatte, wo man prinzipiell keine Dopplungen von Aufnahmen zulassen wollte. Partien, welche einer der Platzhirsche, Gedda oder Schock, eingesungen hatte oder einsingen wollte oder sollte, blieben Wunderlich verwehrt. So mußte er sich mit einigen wenigen begnügen und in Opern- und Operettenquerschnitten mit mäßigen Ensembles unter ebensolchen Dirigenten – Grund genug, zur Deutschen Grammophon zu wechseln. Es entbehrt darum nicht der Ironie, daß die EMI eben jene zuerst zwischen 1960 und 1963 veröffentlichten Opern-Querschnitte innerhalb der Reihe Collector’s-Edition neu herausgebracht hat.

Wer das Prinzip der Werktreue für ein zeitenthobenes hält, den sollten die Aufnahmen – und die verkleinert reproduzierten originalen Schallplattenhüllen auch – eines Besseren belehren. Sie stammen aus einer Zeit, da Schallplattenspieler und Schallplatten durchaus Anschaffungen von Wert waren, Klassik-Hörer eine Schallplatte nicht der Interpretation wegen erwarben, sondern um ein Stück überhaupt erst einmal kennenzulernen oder wieder zu erinnern. Der Plattenspieler im Heim ersetzte das Klavier im Salon. Eigens eingespielte Querschnitte mit den „wesentlichen“ Nummern, aus dem Gesamtzusammenhang gelöst und „verständlich“ aufbereitet, also in deutscher Sprache gesungen, erfüllten durchaus einen volkspädagogischen Zweck. Dabei hatten sie eher liebgewordene Klischees von Oper im allgemeinen und diesen Opern im besonderen zu transportieren, als dem Hörer die komponierte Werkidee zuzumuten.

Da erscheinen auf einer Platte beziehungsweise CD „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ zusammengepreßt und obendrein die Nummern aus ersterer Oper unter verschiedenen Dirigaten. Da fehlen aus „Giovanni“ die Arien der Elvira, der Anna und die erste des Ottavio, was bei Hildegard Hillebrecht leicht, bei Elisabeth Grümmer und Wunderlich schwerlich zu verschmerzen ist. Da wirft man sich blindlings in die französische Oper „Mignon“, die italienischen Opern „La Boheme“, „Butterfly“ und „Giovanni“ und die beiden russischen mit wenig Verständnis für Eigenheiten der Stile, Epochen und nationalen Schulen hinein. Und da bricht man die deutschen Spielopern „Martha“ und „Zar und Zimmermann“ auf die biedermeierliche Posse herunter.

Genug der Prügel! Es sind ja nicht nur eine wirtschaftswunderprüde Anneliese Rothenberger, ein holztrockener Gottlob Frick, ein noch nicht ganz zuckersüßer Hermann Prey anzuhören, sondern auch die anrührende Pilar Lorengar, die seelenvolle Grümmer – und Wunderlich. Es sind Moment-Aufnahmen eines Sängers in Entwicklung, der – an seine stimmlichen Grenzen und darüber hinausgehend – sie immer weiter verschiebt. Ob er einen Pinkerton hätte singend erfüllen können? Einen Hermann, einen Lenski erfüllte er wie keiner sonst. Hat man die je inwendiger, süchtiger, ahnungsvoller, zerrissener gehört? Wird man die je wieder so hören? Für Wunderlich gilt Grillparzers Epitaph auf Schuberts Grab: „Die Tonkunst begrub hier einen reichen Besitz, aber noch viel schönere Hoffnungen.“

Fritz Wunderlich: Die Electrola-Querschnitte EMI Classics 678 www.emicalssics.de

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