© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

Ikone im Rollstuhl
Astrophysik: Stephen Hawking wird siebzig – der Brite machte die Kosmologie populär
Michael Manns

Er wird sein Glas nicht heben können, um mit den Gratulanten anzustoßen. Er wird keinen Toast formulieren können, denn ein Luftröhrenschnitt nahm ihm die Stimme. Mimik und Gestik sind ebenfalls erlahmt. Nur über einen Sprachcomputer wird er sich bedanken können. Eine seltene Krankheit hat sein Nervensystem zerstört. Der Professor mit dem gefesselten Körper heißt Stephen William Hawking. Er ist der bekannteste Astrophysiker der Welt und von Millionen Menschen verehrt. Er wird am 8. Januar siebzig.

Seine Karriere begann in Oxford. Doch in seiner Promotionszeit in Cambridge (1963 bis 1966) verstärkten sich diese merkwürdigen Ausfälle. In der Klinik gab man ihm noch etwa zwei Jahre zu leben. Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose. ALS führt zu einem Absterben der Nervenzellen, die die Muskeln steuern. Es war eine düstere Zeit für Hawking: „Ich habe viel Wagner gehört, da er gut zu meiner apokalyptischen Stimmung paßte.“ Aber er raffte sich auf, lernte seine erste Frau Jane kennen, und der Krankheitsverlauf verlangsamte sich. „Ich begann intensiv zu arbeiten“ – und er strafte die Prognosen der Ärzte Lügen. 1969 wurde Sohn Robert geboren, 1970 Lucy und 1979 Timothy. Bis 1974 konnte er noch selbständig aufstehen, essen und ins Bett gehen. Bis 1985 konnte er noch sprechen, bis 2005 konnte er den Sprachcomputer noch mit der linken Hand bedienen. Trotzdem hat er den Humor nicht verloren: „Ich muß keine Vorlesungen halten und mich nicht auf vielen Sitzungen langweilen.“

1979 erhielt Hawking den berühmten Lucasischen Lehrstuhl in Cambridge, den schon Isaac Newton oder der Physiknobelpreisträger Paul Dirac innehatten. Hawkings Forschungsschwerpunkt waren die Schwarzen Löcher. Wegweisend waren auch seine Konzepte zum Urknall. Die Suche nach einer „Weltformel“, die fernste Zukunft des Universums interessierten ihn ebenso wie Zeitreisen und Wurmlöcher. Weltweit bekannt wurde der Physiker und Kosmologe aber durch seine populärwissenschaftlichen Darstellungen.

„Eine kurze Geschichte der Zeit“ erschien 1988 und verkaufte sich weltweit über zehn Millionen Mal – übersetzt in 30 Sprachen. Der Denker im Rollstuhl wurde so zum Popstar der Wissenschaft. „Ich möchte herausfinden, woher das Universum kommt. Wie und warum es begonnen hat. Wie es enden wird, und wenn, wie dieses Ende aussehen wird.“ Spannende, existentielle und schwierige Fragen. Fragen, mit denen sich die alte Metaphysik schon herumschlug. In diesem Buch ist Hawking noch vorsichtig und läßt noch Platz für einen Schöpfer: „Wenn wir die Antwort auf diese Fragen (gemeint, warum es das Universum überhaupt gibt) fänden, wäre das der endgültige Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen.“ Oder (in „Einsteins Traum“): „Trotzdem bleibt die Frage: Warum macht sich das Universum die Mühe zu existieren? Wenn Sie wollen, können Sie Gott als die Antwort auf diese Frage definieren.“

Oder diese, mit Recht, so oft zitierten Sätze: „Wer haucht den Gleichungen den Odem ein und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben? Die übliche Methode, nach der die Wissenschaft sich ein mathematisches Modell konstruiert, kann die Frage, warum es ein Universum geben muß, welches das Modell beschreibt, nicht beantworten. Warum muß sich das Universum all dem Ungemach der Existenz unterziehen?“

Die Intervention eines Schöpfers läßt Hawking noch offen. Zwölf Jahre später hat er dann eine eindeutig atheistische Position eingenommen. In seinem Buch „Der große Entwurf – eine neue Erklärung des Universums“ ist er davon überzeugt, daß das Universum ohne Schöpfer auskommt. „Spontane Erzeugung ist der Grund, warum etwas ist und nicht einfach nichts, warum es das Universum gibt, warum es uns gibt. „Es ist nicht nötig, Gott als den ersten Beweger zu bemühen, der das Licht entzündet und das Universum in Gang setzt.“ Hawkings Universum ist geschlossen, es hat keinen Anfang und kein Ende. Es genügt sich selbst. Die Zeit, die ein Vorher kennt, verliert in dieser Hawking-Welt irgendwann ihren Sinn, sie wird „raumartig“ und imaginär. Nach einem Vorher „vor“ dem Urknall zu fragen, sei dann genauso sinnlos, wie zu fragen, was am Südpol noch südlicher liege.

Hawkings Universum ist reine Theorie. Damit es funktioniert, müssen Naturgesetze gelten und die Gesetze der Logik. Wo kommen diese wiederum her? Und woher beziehen sie ihre Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit? Sind sie Bestandteil der Vakuumfluktuation, durch die Materie und Raumzeit entstehen sollen, wie Hawking fordert? Seine Argumentationen muten bisweilen fast arrogant an. So, wenn er Philosophen attestiert, sie seien nicht „beschlagen genug, um die modernen Entwicklungen in der theoretischen Physik verfolgen zu können.“ Oder, sofern sie sich mit der Philosophie der Naturwissenschaft beschäftigten, seien sie „gescheiterte Physiker“. Erstaunliche Feststellungen für einen Wissenschaftler, der immer wieder seine eigenen Positionen räumen mußte.

Der katholische Theologe Hans Küng hat die Wendungen, Wandlungen und Verirrungen des Kosmologen kritisiert. Vor allem aber seinen „prätentiösen Ehrgeiz“, die ganze Welt in einer physikalischen Theorie unterzubringen sowie Philosophie und Theologie massiv anzugreifen – mit einer Theorie, die ihrerseits durch keinerlei Beobachtung überprüft worden ist. Spätestens seit dem Erscheinen des Weltbestsellers habe er keine bedeutende wissenschaftliche Leistung mehr hervorgebracht, so seine Kritiker. Das schmälert nicht sein Verdienst um die enorme Popularisierung kosmologischen Denkens.

Hawking, dieses Bündel Mensch, das zusammengekauert im Rollstuhl hängt und einen so anrührt, steht aber noch für eine andere wichtige Erkenntnis, die über den Tag hinausreicht. Hawking ist der lebendige Beweis, daß der Geist stärker ist als die Materie.

 

Was ist ein Schwarzes Loch?

Sie sind die exotischsten Gebilde im Kosmos, idealer Stoff für utopische Romane: Schwarze Löcher. Alles, was ihnen zu nahe kommt, wird erbarmungslos verschluckt – als wären sie in einen gigantischen Staubsauger geraten. An ihrer Oberfläche ist die Schwerkraft so stark, daß sie nichts mehr losläßt. Sogar das Licht bleibt gefangen. Daher kann man Schwarze Löcher nicht direkt beobachten. Indizien für ihre Existenz sind dann nur Auswirkungen auf ihre Umgebung. Ein Schwarzes Loch entsteht durch einen Sternenkollaps. Die Sonne hätte am Schluß dann noch einen Durchmesser von einigen Kilometern, die Erde von einem Zentimeter. Hawkings Überlegungen ergaben, daß diese düsteren Gebilde keineswegs wie tot durchs All treiben, sondern daß es noch in ihnen „arbeitet“. Es können Teilchen entstehen, die doch in die Freiheit gelangen können. Diese Teilchen bekamen den Begriff Hawking-Strahlung oder Hawking-Emission. Experimentell wurden sie bislang nicht bestätigt. Die Wortschöpfung selbst stammt von dem US-Physiker John Archibald Wheeler (1911–2008) aus dem Jahr 1967.

Foto: Stephen Hawking bei Nasa-Veranstaltung: Sein Universum hat keinen Anfang und kein Ende

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