© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Auf der Suche nach dem Gleichgewicht
Bundespräsident: Die nicht enden wollende Affäre um Christian Wulff wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der Bürgerlichen
Paul Rosen

Das neue Jahr hat schlecht für den bürgerlichen Teil der deutschen Politik begonnen. Der von CDU/CSU und FDP gewählte Bundespräsident Christian Wulff befindet sich im „Krieg“ mit der Bild-Zeitung, und im Südwesten sind Zeichen an der Wand zu sehen: Im Saarland wirft die CDU-Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer die FDP aus der Landesregierung – ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der Vorsitzende Philipp Rösler auf dem Stuttgarter Dreikönigstreffen „liefern“ wollte (siehe Artikel auf dieser Seite).

Ein Ausweg aus dem Dilemma ist nicht in Sicht. Weder ist zu erwarten, daß sich die FDP aus eigener Kraft aus dem Sumpf zieht, noch scheint die Koalition die Kraft zu einer wirkungsvollen Sachpolitik zu finden. Zu allem Überdruß ist das Staatsoberhaupt in eine nicht enden wollende Affäre verwickelt. Der einstige niedersächsische Ministerpräsident mit dem taktischen Verhältnis zur Wahrheit über seine Hausfinanzierung und mit seinen guten Kontakten zu zum Teil fragwürdigen Größen der Unternehmer- und Finanzwelt ist nach Ansicht vieler Beobachter in Berlin reif für die Demission.

Ein Rückzug kann ehrenvoll sein, er muß nicht unbedingt Flucht bedeuten, sondern kann auch ein Neuanfang sein, der einem Land das Gleichgewicht zurückbringen kann, dem Maßstäbe und Tugenden abhanden gekommen zu sein scheinen. Wahrheit ist hierzulande offenbar das, dessen Gegenteil nicht sofort nachgewiesen werden kann. Wulff versucht, sich am Stuhl festzukrallen, bis das „Stahlgewitter“ vorbei ist. Dabei bemühte er den Titel des Kriegstagebuches von Ernst Jünger und verglich somit selbstvergessen sein Gefecht mit Bild-Chef Kai Diekmann mit der „turmhohen, flammenden Feuerwand“ (Jünger) der Materialschlacht des Ersten Weltkrieges. In einem Jahr, so wurde Wulff zitiert, werde alles vorbei sein. In Wirklichkeit ist es mit ihm heute schon vorbei. Er hat sich als zu klein für das Amt erwiesen.

Es fragt sich, welcher Schaden eingetreten ist beziehungsweise noch eintreten wird, selbst wenn es noch zu einem immer unwahrscheinlicher werdenden Rücktritt kommen sollte. Ausgerechnet die linke taz gab die Stichworte aus, warum dem bürgerlichen Lager in Deutschland nicht egal sein sollte, wer an der Spitze des Staates steht: „Die Affäre birgt vor allem eine Gefahr. Wulffs Verhalten zielt aufs Selbstverständnis der Christdemokraten. Der Präsident führt Werte ad absurdum, die der Konservativismus gerne gepflegt sehen will: Anstand, Aufrichtigkeit und Rückgrat.“

Während die Bild darauf beharrt, Wulff habe die Veröffentlichung der Kredit-Geschichte verhindern wollen und Juristen die Frage stellen, ob die Mailbox-Gespräche des Präsidenten strafrechtlich relevant sein könnten, blickt Wulff angeblich voran. Am 23. Februar will er im Schloß Bellevue Angehörige der Opfer der Zwickauer Terrorzelle empfangen.

Falls nicht irgendeine neue Nachricht aus der „Wulffschen Gratwanderung am Rande der Wahrheit“ (FAZ) einen Absturz macht und er zum Verzicht auf das Amt gezwungen wird, hat Deutschland einen Präsidenten, dem eine Mehrheit der Bundesbürger nicht mehr vertraut, wie Umfragen zeigen. Er werde das „verspielte Vertrauen nicht zurückgewinnen“ und das Amt nicht von dem erlittenen Schaden heilen können, vermutete die Politikberaterin Gertrud Höhler in der Bild am Sonntag. Und stellte mit traurigem Unterton fest, Wulff habe „keinen Respekt vor dem Amt, dem er ohnehin nicht gewachsen ist“. Die Causa Wulff wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der Bürgerlichen. Die Selbstheilungs- und Selbstreinigungskräfte scheinen den Unionsparteien abhanden gekommen zu sein; sie sind nicht mehr in der Lage, den Ballast Wulff abzuwerfen, und setzen damit die letzte Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Die FDP, früher stets ein korrigierendes Element, wenn es der größere Regierungspartner übertrieb, ist macht-, zahn-, orientierungs- und hilflos. Die Partei ist am Ende, obwohl sie dringend gebraucht würde.

Und Wulff-Gattin Bettina macht mit einem besonderen Schachzug von sich reden. Man sah sie beim Neujahrsempfang des Bild-Verlages Axel Springer in Hamburg. Das läßt zwei Möglichkeiten offen: Entweder haben wir es mit einer zur Hybris gesteigerten Machtdemonstration zu tun oder mit dem, was der Volksmund so beschreibt: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.“