© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Strahlender Osten
Energiepolitik: Trotz Fukushima und deutschem Atomausstieg wollen mehrere EU-Länder neue AKWs bauen
Paul Leonhard

Österreich ist dank der Volksabstimmung von 1978 nie eingestiegen, Dänemark verbot 1985 den Bau von Atomkraftwerken, Italien hat 1990 seinen letzten Reaktor abgeschaltet und Deutschland verabschiedete sich voriges Jahr von der Kernenergie. Die EU-Nachbarn schert das wenig, sie planen sogar Neubauten. So will die Tschechei das AKW im böhmischen Temelin um zwei Reaktorblöcke erweitern und Polen sein erstes AKW in Zarnowitz (Żarnowiec) bei Danzig errichten.

Je größer das Stromdefizit in Deutschland nach der AKW-Abschaltung werde, desto mehr stiegen die Chancen für sein Unternehmen, frohlockte kürzlich Martin Roman, Chef des staatlichen tschechischen Energiekonzerns ČEZ, im Handelsblatt. Fünf der acht abgeschalteten AKW stehen im industriereichen Süddeutschland, doch der als Ersatz gedachte Windstrom aus dem Norden gelangt nicht dorthin – dafür fehlen die notwendigen Stromleitungen. Importe aus österreichischen Gas- und Ölkraftwerken mußten im Dezember 2011 die deutsche Stromlücke schließen.

Experten befürchten nun, daß die Tschechei mit Polen eine Allianz bildet, um sich in der EU gegen atomkritische Länder wie Deutschland zu behaupten. Rußland versucht zudem, in den EU-Atommarkt einzusteigen. Es hat bereits mehrfach Interesse an einer Beteiligung am Ausbau von Temelin signalisiert. Ein Angebot, das der tschechische Präsident Václav Klaus offenbar gegenüber teuren französischen und US-Offerten favorisiert. Andere tschechische Politiker befürchten jedoch eine zu große Energieabhängigkeit von Moskau.

Auch gibt es ein russisches Angebot an Warschau, sich an dem Projekt eines baltischen Atomkraftwerks bei Königsberg zu beteiligen. Dort werden bis 2016 bzw. 2018 zwei Reaktoren mit insgesamt 2.300 Megawatt (MW) errichtet, die die Exklave Kaliningrad zum Stromexporteur machen sollen (JF 19/11). Gleichzeitig signalisierte Rußland sein Interesse, beim Atommeilerbau in Polen zu helfen. Premier Donald Tusk will aber wohl auf französische oder südkoreanische Technologien setzen. Man werde mit demjenigen zusammenarbeiten, der aus polnischer Sicht die preiswertesten, sichersten und fortschrittlichsten Technologien anbiete, sagte der wirtschaftsliberale Politiker. Unter Tusks Regie war 2007 beschlossen worden, bis spätestens 2025 zwei AKW fertigzustellen, um die Abhängigkeit von der Kohle zu verringern. Unter insgesamt 28 möglichen Standorten wurde schließlich Zarnowitz favorisiert. Dort will der staatlich kontrollierte Energiekonzern PGE ab 2016 das erste polnische AKW errichten.

Neben der kleinen Gemeinde nordwestlich von Danzig hatte Polen bereits zu sozialistischen Zeiten mit russischer Hilfe ein Kernkraftwerk mit einer Gesamtleistung von 1.860 MW errichtet, das aber nie in Betrieb ging. 1990 wurde das Vorhaben aufgegeben. Der damalige Wirtschaftsminister bezeichnete das Kraftwerk als überflüssig, auch hatten sich bei einem Referendum die Befragten gegen den Atommeilerbau ausgesprochen. Inzwischen ist die Stimmung gekippt. Die Mehrheit der Zarnowitzer erhofft sich einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Standortfragen sind damit allerdings noch nicht restlos geklärt. Denn bis 2030 sind zwei weitere Reaktoren geplant, und das zur Kühlung vorgesehene Wasser des Zarnowitzer Sees reicht lediglich für ein AKW mit einer Leistung von 1.600 MW. Im Gespräch ist der Bau eines Kanals zur Ostsee, aber auch so ist die Finanzierung des etwa sechs Milliarden Euro teuren Vorhabens noch unklar.

Die Zeitung Dziennik Gazeta Prawna bezweifelt, daß es vom PGE-Konzern allein gestemmt werden kann. Parallel dazu mehrt sich der deutsche Widerstand gegen die neue polnische Atompolitik. Als Altstadt (Krzywiec) bei Stettin und Reichenau (Bogatynia) bei Görlitz als mögliche AKW-Standorte ins Spiel gebracht wurden, gab es einen großen Aufschrei im Grenzland. Allein in der Uckermark wurden 20.000 Unterschriften gesammelt. Und der Görlitzer Oberbürgermeister Joachim Paulick wußte die Mehrheit der deutschen Niederschlesier hinter sich, wenn er nach Warschau schrieb: „Wir wollen diese risikohaltige Technologie hier nicht.“

Mehr als 50.000 Deutsche haben nach Angaben des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Brandenburg Einsprüche gegen den AKW-Bau in Polen eingelegt. Bürger und Behörden hatten dazu im Rahmen der EU-Vorschrift „Strategische Umweltprüfung“ bis zum 4. Januar Zeit. Hauptsorge ist dabei die unzureichende Qualität des Umweltprüfungsverfahrens. Von „völlig unrealistischen Katastrophenszenarien“ seitens der polnischen Behörden spricht BUND-Atomexperte Thorben Becker. Unklar ist weiterhin, was es mit der Demonstrationsanlage eines Kugelhaufenreaktors im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien auf sich hat. Im Frühjahr 2011 hatten die Dresdner Neuesten Nachrichten von entsprechenden Plänen berichtet. Ein derartiger Kraftwerkstyp gilt als besonders sicher, weil die Brennelemente von zwei Schichten Graphit und einer Keramikschicht umschlossen sind und es deswegen keine Kernschmelze geben könne. Reichenau bei Görlitz gilt als idealer Standort für eine derartige Anlage, da die Prozeßwärme für die umweltfreundliche Veredelung der dort abgebauten Braunkohle verwendet werden könnte.

Auch das tschechische Temelin bleibt ein Pannen-AKW. Der Spiegel schrieb unlängst von mehr als 130 Störfällen, die es hier in den vergangenen Jahren gab. „Immer mal wieder kommt es vor, daß ein Generator ausfällt oder ein paar tausend Liter radioaktive Flüssigkeit austreten, die ganze Anlage müßte sofort abgeschaltet werden“, zitiert er die grüne EU-Abgeordnete Rebecca Harms. Österreich fordert seit Jahren parteiübergreifend das Aus für Temelin.

Auch wenn jetzt Experten der World Association of Nuclear Operators (Wano) die Anlage als „sehr gut betriebene“ einschätzten, forderte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) vorsorglich höhere Sicherheitsstandards für die Atommeiler in Böhmen und Mähren: „Wir würden uns wünschen, daß tschechische Energieversorger die international üblichen Standards und Sicherheitsfragen beachten.“

Offizielle Informationen zum polnischen AKW-Programm (deutsch/englisch): www.umwelt.sachsen.de

Foto: Transparent im brandenburgischen Schwedt: Polen hoffen auf wirtschaftlichen Aufschwung durch AKW