© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Bischöfe und Belagerungsfachleute
Zahlreiche Ursprünge moderner europäischer Naturwissenschaft und Technik stammen aus dem Mittelalter
Bruno Martens

Zäh hält sich die Legende vom „dunklen Mittelalter“. Sie entstand in der Renaissance, begann ihre bis heute erfolgreiche Karriere aber erst im 18. Jahrhundert, als Kontrast- und Schreckbild zum verheißenen lichten Äon von Aufklärung und Vernunft. Ihren Kern bildet die Vorstellung eines unaufhebbaren Gegensatzes von Glauben und Wissen. Weil die Kultur des europäischen Mittelalters, jener gut tausend Jahre zwischen dem Untergang des römischen Imperiums und der (Wieder-)Entdeckung Amerikas (1492), von der christlichen Religion bestimmt wurde, sei, so will es die aufklärerische Mär, die Vernunft unterdrückt worden und mit ihr Wissenschaft und Forschung.

Die religiöse Orientierung auf das Jenseits habe der vor allem mittels der Naturwissenschaften und ihrer technischen Ausnützung zu erreichenden Verbesserung der Lebensumstände im Diesseits geringe Bedeutung beigemessen, so daß der mittelalterliche Mensch sein „primitives“, auf die Bibel gestütztes Weltbild, dem zufolge die Erde eine Scheibe sei, die im Mittelpunkt des Universums liege, erst dank Kolumbus und Kopernikus verabschiedete. Natürlich gegen den gewalttätigen Widerstand der katholischen Kirche, die Nikolaus Kopernikus’ Hauptwerk 1616 auf den Index setzte, die Giordano Bruno wie Galileo Galilei vor die Inquisition zitierte, was bei Bruno mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen endete.

Das Zerrbild eines derart dämonisierten Mittelalters hat eine emsige Historiographie der Naturwissenschaften seit langem revidiert. Nach der Überzeugung des britischen Historikers James Hannam sind diese Korrekturen aber immer noch nicht ins öffentliche Bewußtsein gedrungen. Diese Wahrnehmungssperre will er daher mit seiner für ein breites Lesepublikum verfaßten Darstellung über die mittelalterlichen Wurzeln moderner Naturwissenschaft überwinden.

Am meisten profitiert davon der Ruf der katholischen Kirche. Denn in seinen besten Kapiteln rekonstruiert Hannam das Arrangement, das zwischen christlicher Theologie und der aus heidnischen Quellen gespeisten Naturphilosophie im 12. und 13. Jahrhundert getroffen wurde. Solange sie zentrale religiöse Überzeugungen nicht tangierten, durften die zum größten Teil im Dienst der Kirche tätigen Naturtheoretiker nach Herzenslust über den Aufbau der realen Welt nachdenken. Dem „Erwachen der Vernunft“ stand daher kein kirchliches Verdikt entgegen.

Gefördert von der Kirche entstanden in Bologna (1158), Oxford (um 11./12. Jahrhundert), Paris (1200), Cambridge (1209), Salamanca (1218) oder Padua (1222) die ersten Universitäten. Am Oxforder Merton College erweiterten seit etwa 1320 eine Reihe von Klerikern die Grenzen der Physik. Thomas Bradwardine reflektierte die Mathematisierung aristotelischer Bewegungsgesetze, andere Mertonianer spürten den Grundlagen der Mechanik nach. In Paris formulierte Johannes Burdian zur gleichen Zeit eine Konzeption des Impetus, die dem Begriff des Impulses in der modernen Physik sehr nahe kam, während der Bischof und Naturphilosoph Nikolaus von Oresme 200 Jahre vor Kopernikus die meisten Einwände gegen die Erdrotation widerlegte.

Bei soviel naturwissenschaftlichem Sachverstand verwundert es nicht, wenn Hannam Kleriker als gefragte Belagerungstechniker, als Konstrukteure mechanischer Uhren, als Wegbereiter von Erfindungen wie der des Navigationskompasses vorstellen kann. Allerdings muß er zugestehen, daß eine systematische Umsetzung von Naturtheorie in praktische Naturbeherrschung ebenso fehlte wie eine Kultur des Experiments.

Erfindungen wie Uhr und Brille glückten Praktikern ohne theoretische Anleitung. Ebenso autonom, aber kirchlicherseits niemals behindert, vollzog sich die technische Entwicklung bei der Energieausnutzung, im Bauwesen, das Hammon nur mit einer Skizze zu den Innovationen der gotischen Kathedralenarchitektur streift, sowie beim Ausbau der Infrastruktur (Brücken, Hafenanlagen). Für die Medizingeschichte, die für ihn bis 1850 einem „blutigen Fiasko“ gleicht, hält Hannam sogar die aufklärerische Verachtung der „barbarischen“ mittelalterlichen Arzneikunst für legitim, obwohl schon ältere Standardwerke wie Karl Sudhoffs „Geschichte der Medizin“ (1922) ein vorsichtigeres Urteil nahelegen.

In typisch britischer Splendid isolation ist Hannam fast ausschließlich auf die von den beiden oft zitierten Altmeistern Edward Grant und David C. Lindberg repräsentierte angelsächsische Wissenschaftshistoriographie fixiert. Der großen „festländischen“ Tradition erweist er lediglich mit der bloß namentlichen Erwähnung von Koryphäen wie dem Franzosen Pierre Duhem und der deutschen Wissenschaftshistorikerin Anneliese Maier (Namensgeberin des Preises der Humboldt-Stiftung) Reverenz.

Was dazu führt, das Ausmaß der „Vergessenheit“ mittelalterlicher Naturwissenschaft und Technik zu überschätzen. Und zwar nicht nur im Blick auf die Kontinuität der Wissensüberlieferung im Übergang zur Frühen Neuzeit, wie sie der Autor selbst im letzten, Kopernikus, Kepler und Galilei gewidmeten Drittel seines Buches einräumt. Sondern auch angesichts der Dichte „kontinentaler“ Forschungen zum vormodernen Naturdenken, die Ende des 19. Jahrhunderts anheben und die den Vorwurf entkräften, etwas „vergessen“ zu haben.

Auch in die politische Geschichte des Kontinents ist Hannam nicht allzu tief eingedrungen. Was schlaglichtartig bei Wendungen aufscheint wie „der polnische Theologe Witelo“ oder „der polnische Astronom Kopernikus“. Der Schlesier Witelo, Verfasser einer noch Kepler interessierenden, ein mathematisch-dynamisches Weltbild kreierenden „Perspectiva“ (um 1270), entstammte als Sohn eines Thüringers dem deutschen Siedlungsraum um Breslau, und über Kopernikus’ deutsche Herkunft wie Zugehörigkeit zur humanistisch-deutschen Gelehrtenkultur Preußens ist kein Wort zu verlieren.

Fehler dieser Güte gibt es einige, was ebenso stört wie der Geiz des Verlages, dem Werk weder Gesamtbibliographie noch Register zu gönnen. Auch die bessere Ausstattung mit Illustrationen wäre zu wünschen gewesen, um den Wandel der Himmels- und Weltbilder sowie die physikalischen Vorstellungen anschaulicher zu machen. Trotzdem und trotz des notorisch anbiedernden, um „Popularität“ bemühten Plaudertons, der aus angelsächsischer Wissenschaftsprosa auch durch einfühlsamste Übersetzungskunst nicht zu tilgen ist, liegt hier eine brauchbare Einführung in die christlich fundierte Geschichte der Naturwissenschaft Alt-Europas vor.

James Hannam: Die vergessenen Erfinder – Wie im Mittelalter die moderne Wissenschaft entstand. St. Ulrich Verlag, Augsburg 2011, 448 Seiten, 34,95 Euro