© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Lang lebe die DDR
Kino: „Das System“, ein Thriller über die „Dritte Generation Ost“
Christian Dorn

Schwarz-Rot-Gold ist das System, morgen wird es untergehn“, heißt es im legendären Refrain der in der DDR-Endphase gegründeten Punk-Formation „Herbst in Peking“. Passend zum Systemzusammenbruch reüssierte die Band mit ihrem Song „Backschisch-republik“, der paradigmatisch in die Zukunft weisen sollte. Denn die in dem Abgesang attackierten Götzendiener der SED-Diktatur waren in ihrem Opportunismus die idealen Vorarbeiter der neuen Marktwirtschaft, die gerade hier von Beginn an korrumpiert wurde.

Paradigmatisches Beispiel für diese Zeit ist jemand wie Matthias Warnig, Vorstandsvorsitzender der Nord Stream AG, die die Ostsee-Pipeline von Gazprom betreibt, welche im vergangenen November von Medwedew und Merkel offiziell eröffnet wurde. Tatsächlich hatte Warnig bis zum Ende für die Auslandsaufklärung des MfS gearbeitet, um 1990 gleich bei der Dresdner Bank weiterzumachen, für die er die allererste Banklizenz für Ausländer in Sankt Petersburg besorgte. Damaliger Ansprechpartner im Rathaus war Wladimir Putin. Es ist eine Geschichte, die eher beschwiegen wird.

Gleiches gilt für die Erfahrungen der „Dritten Generation Ost“. So nennt jüngst die Sozialwissenschaft die Generation derer, die kurz vor dem Mauerfall in der DDR geboren wurde und heute eine Gruppe von 2,4 Millionen jungen Deutschen repräsentiert. Viele von ihnen sehen sich einem „Schweigeabkommen der Älteren“ gegenüber. So beschreibt es die Autorin Dörte Franke. Von ihr und Khyana el Bitar stammt das Drehbuch zum Spielfilmdebüt des Dokumentarfilmers Marc Bauder unter dem Titel „Das System“. Dieser Politthriller erscheint – trotz seiner fiktionalen Handlung – als glaubhafte Vorgeschichte zur eingangs zitierten Gas-Pipeline. Seine Wirkung verdankt sich vor allem der mephistophelischen Präsenz des Mimen Bernhard Schütz, der in der Rolle des Ex-Agenten Böhm brilliert. Dabei faszinierte Schütz an seiner Rolle „die Fähigkeit, von einem auf das andere umzuschwenken, vom alten System auf die Brüsseler Fördertöpfe“. Doch auch Heinz Hoenig, der den gewendeten Genossen und neuen Machtmenschen Tieschky gibt, vermag seiner Figur eine ungeheuer präzise Gestalt zu verleihen.

Dabei stellt die eigentliche Handlung eine Art Entwicklungsroman dar. In dessen Zentrum steht die Figur des jungen Mannes Mike Hiller, gespielt von Jacob Matschenz. Mike ist in Rostock ohne seinen Vater groß geworden und fristet ein Dasein als Kleinkrimineller. Erst durch den Ex-Stasi-Agenten Böhm, der sich des jungen Mannes annimmt und damit dessen Vaterverlust kompensiert, erfährt Mike von der Stasi-Vergangenheit seiner Eltern. Beispielhaft für die Muster von Unverständnis und Schweigen sind hier die Dialoge zwischen Mike und seiner Mutter Elke, eindrucksvoll gespielt von Jenny Schily. Auf die Abwehrreaktion der Mutter: „Du weißt gar nichts!“ entgegnet der Sohn: „Weil Du mir nichts erzählst!“ Entsprechend verhält es sich mit der Klage über die vorenthaltene Wahrheit, die Mikes Mutter mit dem Satz „Was hätte das geändert?“ abzubügeln sucht. Trefflich erscheint auch der Seitenhieb auf den heutigen Geschichtsunterricht, als der zum alerten Unternehmer gewendete Böhm sich seinem Schützling vorstellt: „HVA! Hattet ihr das nicht in der Schule?“

Durch die neuen G8-Lehrpläne, die das gesamte 20. Jahrhundert auf ein einziges Schuljahr komprimieren, dürfte diese Frage wohl auch in der Wirklichkeit verneint werden. Doch es gibt auch Hoffnung auf historische Analogien, etwa bei Marianne Birthler nach der Filmpremiere: „An 1945 gemessen sind wir jetzt Mitte der sechziger Jahre.“

www.das-system-verstehen.de

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