© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Über den Holocaust wurde woanders entschieden
Die „Wannsee-Konferenz“ vor siebzig Jahren gilt als Entscheidungsort über die Judenermordung, ist tatsächlich aber wohl eher symbolischer Natur
Stefan Scheil

Geschichtsbewußtsein ist immer auch mit Symbolen verknüpft, ein Platz, den häufig Urkunden und andere Schriftsätze einnehmen. Was den Nationalsozialismus und den Holocaust angeht, so hat sich neben dem Tagebuch eines jungen Mädchens namens Anne Frank sicher das Besprechungsprotokoll einer bürokratischen Konferenz zu einem der eindrucksvollsten Symbole entwickelt. Vor siebzig Jahren hat sie stattgefunden, in einer Villa am Berliner Wannsee.

An diesem Tag bat Reinhard Heydrich als „Chef der Sicherheitspolizei und des SD“ ein Ensemble aus Staatssekretären verschiedener deutscher Ministerien, Funktionsträgern von Partei und SS sowie einzelner Territorien zu einer Sitzung. Man traf sich am späten Vormittag, sprach eineinhalb Stunden miteinander, nahm ein Essen inklusive Cognac und ging wieder auseinander. Was dabei genau besprochen wurde und vor allem warum, darüber gehen die Meinungen der geschichtswissenschaftlichen Fachwelt etwas auseinander.

Im populären Gedächtnis ist die „Wannsee-Konferenz“ jedoch das Synonym für das einzigartig kühle und durchkalkulierte Element, das dem nationalsozialistischen Genozid am europäischen Judentum in der Regel zugeschrieben wird. Heydrich stellte sich den Anwesenden als Beauftragter für die „Endlösung der Judenfrage“ vor. Dies wurde zur Kenntnis genommen. Entschieden wurde an diesem Tag dagegen wohl nichts. Adolf Eichmann führte Protokoll und gab später mündlich an, dieser Text sei mehrfach umgeändert worden, um eine bürokratische Wortwahl zu erreichen. Tatsächlich sei teilweise erheblich brutaler und unmißverständlich von Tötung gesprochen worden, anders als es im später bekannt gewordenen Konferenztext stehen würde. Eine offene Verhandlung über Massenmord haben andere Teilnehmer bestritten, was im Selbstschutz vor der alliierten Strafverfolgung allzu naheliegende Gründe gehabt haben mag.

Anscheinend war die Bedeutung der Einladung im Vorfeld aber auch nicht völlig klar. Das Auswärtige Amt (AA) hatte wohl den Staatssekretär Ernst Heinrich von Weizsäcker (Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker) über das kommende Treffen informiert, den Außenminister Joachim von Ribbentrop aber bewußt nicht. Ein Bericht des AA erklärte das ein halbes Jahr später mit der fehlenden Relevanz der Wannsee-Konferenz, die nur als Vorbereitung für eine weitere Konferenz über „Einzelheiten“ habe dienen sollen, die dann nie stattfand. Die Ermittlung der genauen Wortwahl und die Geschichte der Überlieferung des Protokolltextes sind auch deshalb ein Beispiel für die Grenzen, an die Geschichtswissenschaft zum Zweiten Weltkrieg immer wieder stößt.

Sicher ist, daß bereits während des Krieges außerhalb Deutschlands eine Abschrift des Wannsee-Protokolls kursierte. Man weiß von ihrer Existenz aus Gesprächsaufzeichnungen, doch hat sie sich bisher nicht auffinden lassen. Wie so viele andere Zusammenkünfte der nationalsozialistischen Führungsebene waren sowohl die Tatsache des Zusammentreffens als auch der ungefähre Inhalt der Gespräche nicht geheim geblieben. Die widerwillige Faszination des Gedankens, es wäre auf einer subalternen Konferenz über Leben und Tod von Millionen Menschen entschieden worden, entfaltete dann so etwas wie ein Eigenleben.

Eine symbolische Rolle nahm die Wannsee-Konferenz daher bereits während des Krieges ein. Schon unmittelbar vor Kriegsende, am 6. Mai 1945, wollte der New Yorker Herald Tribune wissen, am 20. Januar 1942 hätte Reinhard Heydrich, „berüchtigt als ‘Henker’ der Tschechoslowakei, dreizehn hohe Nazis und Regierungsvertreter zu einem Mittagessen eingeladen, um Pläne für die komplette Vernichtung der europäischen Juden zu diskutieren“. Diese bemerkenswert präzise Angabe erfolgte immerhin fast zwei Jahre bevor das entsprechende Protokoll gefunden und als überraschende Sensation offiziell als belastendes Beweisstück in den Nürnberger Nachfolgeprozeß gegen das Auswärtige Amt, den sogenannten Wilhelmstraßenprozeß, eingeführt wurde.

Wo und wie dieser Fund möglich wurde, dazu machte der amerikanische Jurist und Ankläger Robert Kempner unterschiedliche Angaben. Dem Historiker Werner Maser sagte er, er hätte es von einem Unbekannten in abgetragener Wehrmachtsuniform erhalten. In einer Notiz von 1992 schrieb er sich die Entdeckung in einem „Riesenpaket“ von Akten selbst zu. Im Jahr 2002 berichtete schließlich der Spiegel, eine Mitarbeiterin der US-Behörden hätte das Protokoll in den Unterlagen des Auswärtigen Amts gefunden und persönlich nach Nürnberg gebracht. Diese Versionen stehen nebeneinander.

Lange zuvor hatte Kempner selbst die Verwirrung und das Mißtrauen dadurch gesteigert, daß er die deutschen Angeklagten in Nürnberg mit dem Inhalt konfrontierte und dabei auch mit verschiedenen erfundenen Behauptungen arbeitete. So erklärte er vor Gericht, das Protokoll sei nicht in dreißig, sondern in mehr als hundert Abschriften verteilt gewesen, „bis zum Legationsrat herunter“. Jeder hätte also davon wissen müssen.

Verwirrung und Mißtrauen wurden noch stärker, als Kempner ein Jahrzehnt später aus Anlaß der Verhaftung Adolf Eichmanns den Text des Protokolls und einiger Begleitschreiben in „Eichmann und Komplizen“ erstmals vollständig und dabei in fingierter Faksimileform publizierte. Sie unterschied sich vom Original nur durch das Fehlen von SS-Runen und etwas anders plazierten, aber identischen Handschriften. Ein plausibler Grund dafür hat sich nicht ermitteln lassen.

Dieser teilweise wenig seriöse Umgang mit einem Text, der Weltgeschichte geschrieben hat, nötigte das Berliner „Haus der Wannsee-Konferenz“, das am Ort der Konferenz mit der feinen Adresse Am Großen Wannssee 56–58 ein Dokumentationszentrum betreibt, zu klärenden Darstellungen über die Echtheit des Textes überhaupt. Solche Fragestellungen wegen der Überlieferung des Protokolltextes haben die Rolle der Wannsee-Konferenz als Symbol für den bürokratisch-geschäftsmäßigen Weg hin zum Genozid an den europäischen Juden nicht beeinträchtigt. Ohnehin ist eindeutig, daß die Konferenz auch mehr oder weniger den protokollierten Inhalt hatte. In der Fachwelt ist man sich dennoch weitgehend einig, daß die Symbolik der Konferenz als Entscheidungsort von den Fakten nicht gedeckt wird. Über den Holocaust wurde von anderen Personen, an anderen Orten und zu anderen Zeiten entschieden. Aber Symbole haben eben ein Eigenleben.

 

Teilnehmer der Wannsee-Konferenz

Reinhard Heydrich

Der 1904 geborene SS-Obergruppenführer (analog etwa Generalleutnant) und General der Polizei war Leiter des für die Judenermordung verantwortlichen Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Er leitete die Konferenz und war deren Hauptredner. Im Juni 1942 erlag Heydrich den Verletzungen eines Attentats tschechischer Agenten in Prag.

Adolf Eichmann

Der SS-Obersturmbannführer (analog etwa Major), geboren 1909, war Leiter des Referats IV B im RSHA und Protokollführer der Konferenz. 1945 konnte er nach Südamerika fliehen. 1960 wurde Eichmann nach Israel entführt, dort zum Tode verurteilt und 1963 hingerichtet.

Josef Bühler

Stellvertreter des Generalgouverneurs Hans Frank in Polen, geboren 1904. Er wurde 1948 in Krakau hingerichtet.

Roland Freisler

Geboren 1893. War als Präsident des „Volksgerichtshofs“ höchster NS-Richter für politische Strafsachen. Freisler kam im Februar 1945 bei einem US-Bombenangriff auf Berlin ums Leben.

Otto Hofmann

Der SS-Gruppenführer (1896–1982) war Chef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamts. Knapp neun Jahre Haft (1945–1954).

Gerhard Klopfer

Der SS-Oberführer, analog etwa Oberst, (1905–1987) war Ministerialdirektor in der Parteikanzlei der NSDAP sowie Staatssekretär in der Reichskanzlei.

Heinrich Müller

Der 1900 geborene SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei war Chef des Amtes IV (Geheime Staatspolizei) im Reichssicherheitshauptamt. Seit Mai 1945 vermißt.

Alfred Meyer

Der 1891 geborene Staatssekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete beging 1945 Selbstmord.

Rudolf Lange

Der 1910 geborene SS-Standartenführer war Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für Lettland. Selbstmord im Januar 1945 in Posen.

Georg Leibbrandt

(1899–1982) Diplomat, Konferenzvertretung von Amtchef Alfred Rosenberg für das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete.

Martin Luther

(1895–1945) war Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt (AA).

Friedrich Wilhelm Kritzinger

(1890–1947) war Ministerialdirektor und Staatssekretär in der Reichskanzlei.

Erich Neumann

(1892–1951) war Staatssekretär im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan und vertrat seinen Amtschef Hermann Göring auf der Konferenz.

Karl Eberhard Schöngarth

Der 1903 geborene SS-Oberführer war Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalgouvernement. 1946 hingerichtet.

Wilhelm Stuckart

(1902–1953) vertrat als Staatssekretär seinen Amtschef Reichsinnenminister Wilhelm Frick.

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