© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Schatzsuche am Polarkreis
Größere Areale des Polarmeeres werden eisfrei / Klimawandel löst Wettlauf um arktische Ressourcen aus
Rolf Hubschmid

Grönlands Gletscher sind auf dem Rückzug. 200 Gigatonnen Eis verliert diese Nordpolregion jährlich. Ein Aderlaß, der Auswirkungen auf das irdische Gravitationsfeld hat, dessen Veränderungen zwei Forschungssatelliten eines deutsch-amerikanischen Gemeinschaftsprojekts seit 2002 beobachten. Hauptnutznießer der aus dem All übermittelten Datenflut ist das Deutsche Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. Die Messungen des Doppelsatelliten registrieren, wie die Massenbewegung, die das Schmelzen des grönländischen Eispanzers verursacht, die Stärke der Erdanziehungskraft beeinflußt. Daraus errechneten die Potsdamer Forscher, daß der grönländische Eisschwund den Meeresspiegel jährlich um 0,5 Millimeter steigen läßt.

Vom letzten Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC (Fourth Assessment Report 2007), der lediglich 0,2 Millimeter ausweist, weicht das GFZ damit zwar markant ab. Doch das sind, zumindest in der Darstellung des Bremer Meeresbiologen Nils Ehrenberg (Bild der Wissenschaft, 1/12), eher zweitrangige Differenzen angesichts des globalen Meeresspiegelanstiegs zwischen 2003 und 2007, den französische Geophysiker auf 2,5 Millimeter veranschlagen – womit sie den ohnehin omnipräsenten, vor allem die südliche Erdhalbkugel bedrohenden ökologischen Katastrophenszenarien neue Nahrung geben.

Ungeachtet dessen scheint derzeit in der naturwissenschaftlichen Publizistik frei nach Erich Kästner jedoch ein Trend vorzuherrschen, „das Positive“ des Klimawandels in der Arktis herauszustellen. Insofern spiegelt die kaum noch zu überschauende, monatlich beängstigend anwachsende Textproduktion getreulich ein Stück „Realpolitik“ am Nordpol wider. Denn die Anrainerstaaten, vor allem Kanada und Rußland, die um einen Platz an der arktischen Sonne kämpfenden USA sowie das Grönland als Trumpf-As ausspielende Dänemark und die Energiegroßmacht Norwegen, verhehlen nicht, daß ihnen die gigantische Eisschmelze wie ein Gottesgeschenk gelegen kommt.

Gänzlich unbeeindruckt davon, daß renommierte Forscher die Verflüssigung des arktischen Meereises samt der prognostizierten Verheerungen in den Küstenregionen vornehmlich des Indischen Ozeans für „unumkehrbar“ halten, spekulieren die Anrainer bereits auf den Inhalt der Schatzkiste, die sich ihnen im Nordpolarmeer öffnet. Und dabei schlägt zugleich wieder einmal die welthistorische Stunde des Nationalstaates, den bundesdeutsche Gimpel für ein Relikt des 19. Jahrhunderts ausgeben. Denn die Anrainer weigern sich so beharrlich wie erfolgreich, die Arktis nach dem Modell der bis 2041 vor jeder wirtschaftlichen Ausbeutung geschützen Antarktis einem ähnlichen internationalen Regime zu unterwerfen. „Ausbeuten“ möchte hier jeder auf eigene Rechnung – und das dürfte sich lohnen.

Daher ist die „Territorialisierung“ der Region in vollem Gange, wie sich aus einer Studie der Heidelberger Geographen Hans Gebhard und Eva Ingenfeld ergibt. Die gerade hierzulande gern belächelte „Flaggenhissung“ Rußlands auf dem Meeresgrund des Nordpols, bewerkstelligt von einem Roboter im August 2007, ist dabei ein starkes Stück Symbolpolitik, die nicht nur Moskaus Machtwillen demonstrierte, sondern auch die Bereitschaft, ohne Rücksicht auf das sensible Ökosystem die sich bietenden geoökonomischen und geopolitischen Chancen wahrnehmen zu wollen. Rußland und Kanada erhöhten daher sogar ihre militärische Präsenz am Pol, was die EU und China um den freien Zugang zu den Schiffahrtsrouten bangen läßt (Geographische Rundschau, 12/11).

Obwohl noch große Unsicherheit über das Ausmaß der Rohstoffvorkommen herrscht, auf die die Anrainer bei ihrem „Kalten Krieg um den Nordpol“ zugreifen wollen, warten nach aktuellen Schätzungen des Geologischen Dienstes der USA dort mindestens 30 Prozent der vermuteten Erdgasvorkommen weltweit auf ihre Erschließung. Und die vermuteten 90 Milliarden Barrel arktisches Rohöl entsprechen einem Drittel des saudi-arabischen Vorrats.

Den US-Geologen sind bislang 400 Öl- und Gaslagerstätten nördlich des Polarkreises bekannt. Erst wenige davon beliefern Europa seit einigen Jahren mit Erdgas. Auch die riesigen Erdgasfelder Westsibiriens, aus denen Deutschland ein Drittel seines russischen Erdgases bezieht, liegen im Bereich des Polarkreises und sind von mehrere hundert Meter mächtigem Permafrost überlagert. Da die Förderung dort bald abnimmt, laufen von russischer Seite intensive Bemühungen, die immensen Vorräte in der nördlich anschließenden Polarmeerregion anzuzapfen.

Dies ist jedoch nur eine von zahllosen Unternehmungen, um die geologischen Potentiale dieser unwirtlichen Regionen zu nutzen. Wie Karsten Piepjohns (Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe/BGR) im gleichen Arktis-Heft der Geographischen Rundschau dokumentiert, spielt dabei heute schon neben Erdöl und Erdgas die Förderung mineralischer Rohstoffe eine wichtige Rolle. Derzeit bauen 20 Bergwerksbetriebe nördlich des Polarkreises (Grönland, Nordkanada, Alaska, Kola-Halbinsel und Zentralsibirien) Gold, Blei, Zink, Kupfer, Eisenerz, Molybdän und „Seltene Erden“ (JF 45/10) ab. Nach Piepjohns Prognose ist dies allerdings nur ein Vorstadium künftiger ökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten.

Zu denen zählen Thomas Pawlik (Centre of Maritime Studies/Bremen) und Gordon Wilmsmeier (Wirtschaftskommission UNECE) auch verkehrsgeographische Chancen, die sich daraus ergeben, daß durch den Klimawandel immer größere Areale des Polarmeeres saisonal eisfrei werden. Das erste Frachtschiff hat die Nordwestpassage entlang der kanadischen Küstenlinien 2008 glücklich durchquert, während ein russischer Tanker 2010 mit 70.000 Tonnen Gaskondensat die Nordostroute von Murmansk ins chinesische Ningbo nehmen konnte. Von Nordeuropa nach China oder Japan verkürzt sich die Reisedauer im Vergleich zur Route über den Suezkanal um ein Drittel.

Bevor jedoch dieser neuer Transitweg effizient zu nutzen ist, sind schiffahrtstechnische Herausforderungen wie die Konstruktion von Doppelhüllentankern und Containerschiffen zu meistern, denen wegen strengerer Emissionsvorschriften überdies eine neue (Diesel-)Motorentechnologie implantiert werden muß. Überdies fehlt es an seemännischem Personal mit umfassenden Kenntnissen der arktischen Gewässer, und auch die hohen Versicherungsprämien wie die Kosten für die obligatorische russische Eisbrecherassistenz stellen die Wirtschaftlichkeit der nördlichen Seeroute in Frage. Daß der Schiffsverkehr allerdings allein schon aufgrund des Rohstoffabbaus in der Arktis deutlich zunehmen werde, steht für Pawlik und Wilmsmeier außer Frage.

Die aktuelle BGR-Studie „Das mineralische Rohstoffpotential Grönlands“: www.deutsche-rohstoffagentur.de

Foto: Das deutsche Eisbrecher- und Forschungsschiff „Polarstern“ auf Kurs Ostgrönland: Lukrative Rohstoffpotentiale wecken Begehrlichkeiten

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