© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Ilan Pappé. Der israelische Historiker wirft seinem Land ethnische Säuberung vor
Richter und Rächer
Markus Brandstetter

Der deutsch-jüdische Philosoph Theodor Lessing veröffentlichte 1930 sein Buch „Der jüdische Selbsthaß“. Darin nennt er den Kulturkritiker Karl Kraus „das leuchtendste Beispiel jüdischen Selbsthasses“, aber auch einen „Rächer und Richter der Zeit“, dessen „Weg des Kampfes“ er „tief begreife und billige“.

Das sind Worte bitterer Bewunderung und trotziger Anerkennung, die sich heute mutatis mutandis auch auf den Historiker und Publizisten Ilan Pappé anwenden lassen. Wie an kaum einem anderen israelischen Intellektuellen scheiden sich an Pappé die Geister. Die einen halten den Autor des nun auch auf deutsch erschienenen Buches „Der Kampf um die akademische Freiheit in Israel“ für einen Humanisten und Aufklärer, der die Wahrheit über Israels gewaltsame Vertreibung der Palästinenser ans Licht bringt. Für andere ist er ein Nestbeschmutzer, Marktschreier und Ideologe, der sich nicht scheut, Wahrheiten zu verdrehen, wenn es ihm nur gelingt, Israel irgendwie am Zeug zu flicken.

Pappés großes Thema ist die Vertreibung von fast 800.000 Palästinensern im Jahr 1948. Diesen Vorgang klassifiziert er in seinem Buch „The Ethnic Cleansing of Palestine“, mit dem er 2006 für Aufsehen sorgte, als „ethnische Säuberung“ und rückt ihn dadurch bewußt in die Nähe von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Allerdings stellt Pappé nicht erst eine Hypothese auf, die dann an historischen Fakten überprüft wird, nein, für ihn steht die Wahrheit von Anfang an fest: Die israelischen Politiker und Kommandeure, ebenso wie die einfachen Soldaten und Polizisten, seien ausnahmslos Mörder und Verbrecher gewesen. Bei Pappé erweist sich alles Israelische als schlecht und böse, alles Palästinensische hingegen als harmlos und gut.

Pappé hat nicht immer so einseitig gedacht. Nach dem Studium in Jerusalem und der Promotion in Oxford machte der 1954 in Haifa Geborene sich einen Namen als Mitglied der Neuen Historiker, einer Gruppe israelischer Geschichtswissenschaftler, die die Schöpfungsmythen ihres Staates energisch in Frage stellten. Während die fünf anderen der Gruppe die Gründung Israels jedoch letztlich als Akt der Selbstbehauptung unter widrigen Umständen interpretieren – wobei sie die gewaltsame Vertreibung der Araber durchaus einräumen –, bezichtigt Pappé als einziger Israel von vornherein ausschließlich böser Absichten.

Er vertritt dabei seine Überzeugungen nicht nur offensiv, sondern will sie auch politisch in die Praxis umsetzen, weshalb Pappé 1999 auf der sozialistischen Chadasch-Liste für die Knesset kandidierte, ohne jedoch daß ihm der Einzug gelang. Denn gleichzeitig rief er zum Boykott Israels auf, was ihn viele Sympathien, schließlich seine akademischen Ämter kostete. Beirrt hat das Pappé, der inzwischen das Europäische Zentrum zum Studium Palästinas an der Universität Exeter in Großbritannien leitet, freilich nicht.

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