© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Blind, taub und unter finanziert
Europäische Verteidigung: Angesichts der Finanzkrise verkleinern die EU-Staaten ihre Armeen und setzen so ihre Machtposition aufs Spiel
Michael Wiesberg

Den „Spekulanten in der Londoner City und New Yorks Wallstreet“ sei das gelungen, so der Moderator der NDR-Sendereihe „Streitkräfte und Strategien“ im April letzten Jahres, woran „Diplomaten in jahrzehntelangen Verhandlungen gescheitert sind: Abrüstung in Europa“. Welche Konsequenzen diese Abrüstung, die eine Konsequenz des Sparzwangs ist, der mehr oder weniger alle europäischen Staaten erfaßt hat, noch zeitigen wird, ist derzeit kaum absehbar. Ein Menetekel könnte die zurückliegende Libyen-Intervention einiger Nato-Staaten gewesen sein: Hier sah sich zum Beispiel Italien gezwungen, seinen Flugzeugträger aus Kostengründen aus dem laufenden Einsatz zurückzuziehen. Mit dieser Entscheidung habe Italien, so urteilte Christian Mölling, Mitarbeiter der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), „Kriegsgeschichte geschrieben“. Dieses Beispiel steht allerdings nur pars pro toto: Großbritannien zum Beispiel stellte quasi von einem Tag auf den anderen seinen Flugzeugträger außer Dienst und verschrottete fabrikneue Seeaufklärer. In den Niederlanden sah man sich gezwungen, gerade modernisierte Kampfpanzer einzumotten. Zudem mustert Österreich zwei Drittel seiner Panzer aus.

Der ehemalige US-Verteidigungsministers Robert Gates, der bei seinem Abschiedsbesuch im Brüsseler Nato-Hauptquartier im Juni letzten Jahres eine „trübe, düstere Zukunft“, ja möglicherweise sogar „militärische Irrelevanz“ prognostizierte, dürfte sich bestätigt sehen. Dies gilt um so mehr vor dem Hintergrund der langfristigen Verbindlichkeiten, mit denen die öffentlichen Haushalte Europas belastet sind. Diese zwingen zu weiteren Haushaltskürzungen, die sich zunehmend auch auf die Verteidigungsetats der Staaten Europas erstrecken.

Es droht damit eine Unterfinanzierung der Streitkräfte, die das Risiko eines Verlusts der militärischen Handlungsfähigkeit steigen läßt. Dazu kommt, daß sich auch die Nato-Führungsmacht USA in den nächsten zehn Jahren zu massiven Einschnitten in ihren Verteidigungsetat gezwungen sieht. Rund 490 Milliarden Dollar soll das Pentagon in den nächsten zehn Jahren einsparen. Entsprechend mißmutig kommentiert das US-Verteidigungsministerium die Sparbemühungen der Europäer im militärischen Bereich. Diese Bemühungen haben bereits jetzt zu einem signifikanten Ungleichgewicht bei der Finanzierung der Nato-Militärausgaben geführt. Mittlerweile tragen die USA gut 75 Prozent der Ausgaben der Allianz, was auch den Grad der Abhängigkeit der europäischen Nato-Mitglieder von den Vereinigten Staaten widerspiegelt. Robert Gates drohte bei seinem Abschiedsbesuch bereits an, daß es die USA schon bald nicht mehr hinnähmen, „ihre knappen finanziellen Mittel für Nationen einzusetzen, die sich weigern, selber die nötigen Mittel für ihre Verteidigung einzusetzen“.

Der „desaströse Zustand europäischer Verteidigungsfähigkeit“, wie es Christian Mölling in einem SWP-Papier (11/2011) nannte, das den bezeichnenden Titel „Europa ohne Verteidigung“ trägt, wurde während der Libyen-Intervention mit aller Deutlichkeit augenfällig, und zwar nicht nur wegen der Zurückbeorderung des italienischen Flugzeugträgers. „Weder ein europäischer Staat allein noch Europa insgesamt“, so Mölling, „wären derzeit in der Lage, Interessen mit militärischer Macht über eine Entfernung von kaum 1.000 Kilometern durchzusetzen.“ Besonders alarmieren muß die Tatsache, daß die Europäer „militärisch weitgehend blind und taub“ seien, weil ihnen die „globale Schnittstellte C4ISTAR“ fehle, zu der aktuell nur die USA Zugang hätten. Diese Schnittstelle koordiniert Nachrichtengewinnung, Aufklärung und Führungsunterstützung. Welche Bedeutung C4ISTAR zukommt, wird an folgender Zahl deutlich, die Mölling anführt: Rund 90 Prozent der Militäraktionen in Libyen wären ohne US-Unterstützung nicht möglich gewesen.

Angesichts dieser Misere wird von europäischer Seite fieberhaft nach einem Königsweg gesucht, der Sparzwänge und Sicherheitsinteressen miteinander in Einklang bringt. Schlagworte wie „Smart Defence“ („Clevere Verteidigung“) oder „Bonsai-Armeen“ machen die Runde, kaschieren aber nur mühselig, daß hier aus der nackten Not auch noch eine Tugend gemacht werden soll. „Smart defence“ wird insbesondere von Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen angepriesen: Die 28 Nato-Mitglieder sollen doch einfach ihre militärischen Fähigkeiten zusammenfassen und koordinieren. Konkret bedeutet das den Verzicht auf teure Alleingänge bei Rüstungsprojekten und die Vermeidung „unnötiger Doppelkapazitäten“. „Smart Defence“, so der Däne, heiße „mehr Sicherheit für weniger Geld“. Der Optimismus von Rasmussen indes hält der Wirklichkeit kaum stand. Die bisherigen Versuche, zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik zu kommen, waren kaum das Papier wert, auf dem die entsprechenden Absichtserklärungen standen. Daß es in Zukunft anders laufen könnte – selbst vor dem Hintergrund zusammengestrichener Verteidigungshaushalte –, dafür spricht derzeit wenig. Warum das so ist, erklärt der Militärexperte der SWP, Markus Kaim, mit „nationalen Beharrungsreflexen“: „Eigentlich gibt es angesichts der wirtschaftlichen Zwänge keine Alternative zu Kooperation und Integration“; in vielen Hauptstädten werde Verteidigungspolitik aber „als Kernbestandteil nationaler Souveränität gesehen“. Entsprechend gering ist der Wille zur Kooperation ausgeprägt.

Darüber hinaus gibt es noch andere Gräben: Franzosen und Briten haben seit dem Libyen-Einsatz, das berichtete unter anderem die Financial Times Deutschland (FTD) im Oktober letzten Jahres, Vorbehalte dagegen, „gemeinsame Kapazitäten“ mit Deutschland aufzubauen, das überdies „andere Prioritäten“ – nämlich die Bundeswehrreform – habe. Außerdem wolle sich Verteidigungsminister Thomas de Mazière nicht „mit den eigenen Leuten anlegen“. Schließlich gebe es dann auf deutscher Seite noch den „Parlamentsvorbehalt“ in Fragen von Krieg und Frieden, der einer raschen Reaktion im Krisenfall entgegenstünde. Zu all dem kommen noch die Interessen der nationalen Rüstungsindustrien, die, so die FTD, „um ihre Pfründe“ bangten, weil sie „gut an den Aufträgen ihrer Regierung“ verdienten. So verwundert die Auskunft de Mazières, er halte das „Potential der Integration“ für begrenzt, kaum mehr.

Rasmussens Smart-Defence-Visionen, die auf dem kommenden Nato-Gipfel in Chicago im Mai dieses Jahres ein zentrales Thema sein sollen, dürften deshalb im wesentlichen Wunschdenken bleiben. Dafür spricht auch, daß zum Beispiel die bereits 1999 beschlossene EU-Kriseninterventionstruppe, die bis zu 60.000 Mann umfassen sollte, bis heute auf sich warten läßt. Auch die EU-Battlegroups, die seit rund fünf Jahren zur Verfügung stehen, wurden bisher nicht eingesetzt, obwohl es dazu entsprechende Möglichkeiten gegeben hätte.

So wird die Entwicklung in Europa wohl auf „Bonsai-Armeen“ hinauslaufen, also auf Miniaturarmeen, deren militärische Durchschlagskraft eher zweifelhaft ist. SWP-Sicherheitsexperte Christian Mölling sieht hier drei Stufen des „Strukturabbaus“, wie er es nennt: Zunächst verringerten sich die „militärischen Fähigkeiten, dann die rüstungs-industriellen Kapazitäten und schließlich die technologische Kompetenz“. Am Ende stehe der Verlust von Kooperationsfähigkeit, was der Nato insgesamt den Boden entziehen würde.

Nach Meinung vieler Experten wird sich das militärische Kräfteverhältnis in den kommenden Jahren aus allen diesen Gründen mehr und mehr vom Westen in Richtung Schwellenländer verlagern, was einem „geostrategischen Paradigmenwechsel“ – so Mölling – gleichkommt: Die USA tragen dieser Entwicklung bereits Rechnung, indem sie den Fokus ihrer Sicherheitsinteressen in den Pazifikraum verlagern, wo mit China ein ernsthafter Herausforderer in den Ring gestiegen ist. Was die Stunde geschlagen hat, wird in der Studie „The Military Balance 2011“ des Londoner Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) umrissen: „Die Verteidigungshaushalte westlicher Staaten stehen unter Druck und ihre Rüstungsanstrengungen sind eingeschränkt. Aber in anderen Regionen, vor allem in Asien und im Nahen Osten, boomen die Militärausgaben und die Waffenkäufe. Es gibt überzeugende Hinweise darauf, daß sich eine weltweite Umverteilung militärischer Macht vollzieht.“

Es sei naheliegend, so die Studie weiter, daß sich die Verschiebung in der Verteilung ökonomischer Macht konsequenterweise auch in den Militärausgaben bemerkbar mache. Die Vereinigten Staaten und andere westliche Mächte verlören derzeit, so das Fazit dieser Studie, ihre Monopolstellung in Kernbereichen der Verteidigungstechnik, eingeschlossen Stealth-Technik, unbemannte Flugsysteme (Drohnen) und Cyber-Kriegführung. Zumindest für die Staaten Europas zeichnet sich ab, daß sie als globaler Ordnungsfaktor schon in naher Zukunft keine Rolle mehr spielen könnten.

www.swp-berlin.org

 

Gemeinsame Sicherheitspolitik der EU

„Das langfristige Ziel ist der Aufbau einer europäischen Armee“ erklärte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) auf der 46. Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2010. Doch dies ist nur der Wunschtraum eines „absolut überzeugten Europäers“. Denn während in der Finanz- und Wirtschaftspolitik die Integration voranschreitet, kommt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nicht von der Stelle. Selbstkritisch gibt die EU zu Protokoll, daß auf dieser Ebene die „meisten Befugnisse weiterhin bei den einzelnen EU-Mitgliedstaaten liegen“. Da Beschlüsse über militärische Maßnahmen aber auf Einstimmigkeit beruhen, stützt sich die GASP auf den Grundsatz der „soft power“. Heißt: Einsatz von diplomatischen Mitteln – „nötigenfalls“ in Verbindung mit Handels-, Hilfs- und Friedenssicherungsmaßnahmen.

Foto: Abrüstung in Zeiten knapper Kassen der EU: Verschrottung von Militärtechnik bei der Battle Tank Dismantling GmbH Koch (BTD) in Thüringen

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