© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Tendenz zur Weltflucht
Künstler der Einsamkeit: Frederick Delius zum 150. Geburtstag
Wiebke Detlefs

Zusammen mit Ralph Vaughan Williams, Edward Elgar und Gustav Holst ist er der bedeutendste englische Komponist in der Zeit zwischen 1890 und 1930. Der deutschstämmige Frederick Delius kam am 29. Januar 1862 im industriellen Bradford in Yorkshire zur Welt. Er war von seinem wohlhabenden Vater, einem Textilkaufmann, für eben diesen Beruf bestimmt. Gegen seinen Willen schickte ihn sein Vater 1884 nach Florida, wo er eine Orangenplantage zu führen hatte. Den lange schon schlummernden künstlerischen Neigungen ließ er dort als Organist und Gesangslehrer freien Lauf, worunter der wirtschaftliche Erfolg als Orangenhändler litt.

Dennoch gab der Vater seine großen Widerstände gegen den Musikerberuf des Sohnes auf, da er Frederick eher als Belastung des Geschäfts ansah. 1886 studierte Delius in Leipzig und nahm 1891 seinen Wohnsitz in Paris. 1896 heiratete er die Malerin Jelka Rosen und zog mit ihr in den kleinen Ort Grez-sur-Loing bei Fontainebleau, wo er bis zu seinem Tod lebte. Gegen Ende der zwanziger Jahre erblindete Delius und büßte seine Gehfähigkeit ein, vermutlich aufgrund einer jahrzehntelang nicht auskurierten Syphilis. Der junge Musiker Eric Fenby war in den letzten Jahren Delius’ Adlatus, der für ihn die Notenschreibarbeit erledigte. Denn bis zu seinem Tode am 10. Juni 1934 blieb er schöpferisch tätig.

Delius’ umfangreiches Werkregister umfaßt Opern, Orchester- und Vokalkompositionen, Kammermusik und Klavierlieder. Seine Opern „Koanga“ (1897) – wahrscheinlich die erste und einzige, die kreolisches Volksleben auf die Bühne bringt – sowie „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ (1901), nach Gottfried Keller, wurden in Elberfeld und Berlin uraufgeführt und blieben bis zum Ersten Weltkrieg viel gespielt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb aber die weitere Rezeption Delius’ aus. Dabei ist er ein Komponist von äußerster Originalität. Bereits in seinen Frühwerken zeigt er die Tendenz zu thematisch freier, modulatorisch ruheloser Musik. Die klassische Kadenz hat er aufgegeben. Dissonanz und Konsonanz nähern sich gleichberechtigt an. Normale Dreiklänge werden oft verfärbt durch die Hinzufügung der Sexte, ein später überstrapaziertes Mittel in der Unterhaltungsmusik. „Hemmungsloses Schwelgen in chromatischen Vorhaltsharmonien, (…) eigentümlich gleitende, irisierende Harmonien (…) grundieren meist einfache, volksliedhafte Themen. (…) Die Vorliebe für Dämmerfarben und unmerklich zarte Übergänge eignet sich vor allem zu stimmungshafter Naturschilderung und koloristischer Finesse“ (Hans F. Redlich). Die Volksliedthemen werden in der Art Griegs chromatisch verfeinert. Delius’ Harmonik erwuchs letztlich aus der des Tristan, die modulatorisch genauo unruhig ist, auf die Kadenz verzichtet und über der sich ein thematisch freies Melos entwickelt.

Mit seinem Einsatz üppiger Orchesterfarben steigert Delius den „gewöhnlichen“ Impressionismus Debussyscher Prägung. Es gelingt ihm vielleicht als einzigem Komponisten eine Tonsprache, die man „musikalischen Jugendstil“ nennen dürfte – bereits voll der schwärmischen, klanglichen Dekadenz des frühen Arnold Schönberg. Richard Strauss schätzte Delius außerordentlich und meinte, daß er nicht gewußt habe, daß jemand außer ihm selbst derart gute Musik schriebe.

Sein Leben lang war Delius aufgrund seiner wohlhabenden Familie wirtschaftlich unabhängig und frei von finanziellen Sorgen. Doch litt er sehr unter den Zwängen der Kindheit, als er um jeden Preis Kaufmann hat werden sollen, Kaufmann in jenem Industriegebiet von Yorkshire. Vielleicht waren es diese beiden Faktoren, die ihn in seinem Schaffen zu einer seltsamen Weltflucht kommen ließen. Wahrscheinlich ist kein Komponist so sehr ein Künstler der Einsamkeit, der Verlassenheit, der Weltverlorenheit, wie Delius. Fast alles in seinem Schaffen ist meditativ – es verwundert, daß Esoteriker und New-Age-Bewegung bisher ih nicht entdeckten.

Da ist es kein Wunder, daß seine frühen Opern, die Menschen in realistischer Szenerie schildern, dramatische Fehlschläge sind (nicht musikalische!). Delius’ meistgespielte Orchesterwerke „In a Summer Garden“, „On Hearing the First Cuckoo in Spring“ (beide 1912) bezeugen die Tendenz zur Weltflucht. „Brigg Fair“ (1907), eine Variationsfolge nach englischen Volksliedern, und „Over the Hills and far away“ sind Kompositionen voll melancholischer Abgeschiedenheit, schildern herrliche Naturszenen – nur fehlen überall Menschen, genau wie im Chorwerk „The Song of the High Hills“ (1912).

Die größte Chorschöpfung des Komponisten ist eine Vertonung Nietzescher Texte: „A Mass of Life“ – ein recht unchristlicher Titel. In ihr manifestiert sich der Gedanke, daß es die einzige Pflicht menschlicher Wesen ist, höchsten Mut und höchstes Selbstbewußtsein zu haben. Daraus entsteht nun der Glaube an das persönliche Gefühl als einziges Absolutum. Fast zwangsläufig mündet ein solcher Glaube in der Isolation. Aber aus dieser Isolation erwuchsen die musikalisch herrlichsten, überwältigendsten Darstellungen einer selbstgewählten Einsamkeit, verbunden mit pantheistischer Ekstase.

Bei EMI ist eine preiswerte Box mit 18 CDs (150 th Anniversary Edition) erschienen, die das orchestrale Schaffen vollständig, daneben die wichtigsten Opern und Chorwerke präsentiert, dargeboten unter anderem von Sir Thomas Beecham und Sir John Barbirolli, den bedeutendsten Delius-Interpreten.

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