© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/12 27. Januar 2012

Der Flaneur
Recht und Ordnung
Ellen Kositza

ICE, Großraumabteil, mäßig besetzter Wagen. Etwa eine Viertelstunde hat es gedauert, bis sich das Paar auf seinen Sitzen eingerichtet hat. Nun hängen die Mäntel, liegt der Koffer, obenauf der Hut. Sein Krückstock ist zweimal auf den Gang gefallen, jetzt hat sie ihn im Netz des Vordersitzes eingehakt. Er packt seine Lektüre aus, sie Tabletten: „Du bist wieder eine halbe Stunde zu spät dran“, sie kramt nach einer Wasserflasche, die liegt oben.

Als die Pille geschluckt ist und beide sich in ihre Bücher vertiefen, hält der Zug. Das Abteil leert und füllt sich wieder. „Halloho!“ Der jungen Frau im Busineß-Anzug ist deutlich anzumerken, wie groß die nervliche Belastung sein muß, den auffordernden Gruß ein zweites Mal zu entbieten. Man hat schließlich nicht alle Zeit der Welt! „Die Plätze hier haben wir reserviert“, verkündet die strenge Dame und weist mit dem Kopf auf ihren Mann oder Partner. Untertänig eingeschüchterte Aufregung bei den Alten.

Oh je, woran das zu erkennen wäre? „Tja, da sind wohl mal wieder die Reservierungsanzeigen ausgefallen, leider nicht unser Problem“, bescheidet die Jüngere unter nonchalanter Verwechslung von „leider“ und „zum Glück“. Hektik bricht aus unter den beiden Alten. Ein Mitreisender schaltet sich ein: Weiter vorn sei eine komplette Vierergruppe mit Tisch frei geworden, ob die beiden Zugestiegenen die nicht rasch belegen wollen?

Die Angesprochenen wissen „nicht wirklich“, was das ihn, den unbeteiligten Dritten angehe und beharren auf ihrem Platzrecht. Man reserviere ja nicht aus „Lust und Laune“ – jene Funktion stehe übrigens auch anderen zur Verfügung. Eine weitere Viertelstunde später herrschen wieder Recht und Ordnung im Abteil. Die Alten haben am Vierertisch Platz gefunden, die Profi-Reisenden haben längst ihre Notebooks aufgeklappt. Man hat sich entspannt. Wie gut, daß es Regeln gibt und Leute, die sich noch dran halten.

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