© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/12 03. Februar 2012

Optimistische Patrioten
Besuch in Kasachstan: Zwanzig Jahre nach seiner Unabhängigkeit zeigt sich das von Präsident Nasarbajew mit straffen Zügeln geführte Land in neuem Glanz
Michael Paulwitz

Nursultan ist ein wenig aufgeregt, aber vor allem ist er mächtig stolz. In Astana ist er geboren und aufgewachsen, in Prag hat er Ökonomie studiert, jetzt kommt er zum ersten Mal seit drei Jahren wieder in seine Heimatstadt. Der junge Mann freut sich auf üppige Willkommensfeste – Kasachen sind Familienmenschen, und die Gastlichkeit ist so heilig, wie die Reiselust im Blut liegt. Ein Studienaufenthalt im Ausland gehört für die Generation, die in der seit zwanzig Jahren unabhängigen zentralasiatischen Republik Kasachstan aufgewachsen ist, fast schon zur Selbstverständlichkeit. Nursultan kehrt in ein Land zurück, in dem die ökonomischen Indikatoren seit Jahren kontinuierlich nach oben weisen und das die letzte Weltwirtschaftskrise rekordverdächtig schnell überwunden hat.

„Verkehrsplanung“ wie in deutschen Großstädten

Seine Stadt wird der Student mit dem prominenten Vornamen vermutlich kaum wiedererkennen. Astana, 1997 zur Hauptstadt Kasachstans erhoben, um nicht zuletzt die stark russisch besiedelten nördlichen Landesteile besser einzubinden, wächst stürmisch. Binnen weniger Jahre ist neben dem alten Kern der Stadt, die zur Zarenzeit Akmolinsk hieß, und den Plattensiedlungen der Chruschtschow- und Breschnew-Zeit, als die Stadt Zelinograd hieß, am gegenüberliegenden Ufer des Flusses Ischim eine futuristische Großstadt in der leeren Steppe emporgewachsen, die Einwohnerzahl, die Ende der 1990er Jahre noch bei 270.000 lag, hat sich seither verdreifacht.

Nursultan Nasarbajew, der Staatspräsident und Namensvetter unseres Reisegenossen, regiert das Land seit der Unabhängigkeitserklärung am straffen Zügel. Der Triumphbogen, den er am Nationalfeiertag einweiht, steht am Ende eines großzügigen Boulevards in einer unbebauten Ebene. Trotz grimmiger Kälte – minus 35 Grad sind im Steppenwinter keine Seltenheit – feiern Jung und Alt mit fröhlichem Patriotismus das neue Wahrzeichen, das dem „ewigen Land“ gewidmet ist und kasachische Krieger verschiedener Epochen zeigt. Nach dem zackigen militärischen Zeremoniell ist das Erinnerungsfoto inmitten eines Fahnenmeers Ehrensache.

Die leeren Bauflächen werden sich rasch füllen. An den Baustellen Astanas herrscht unbefangener Eklektizismus: Der Triumphbogen zitiert sein Pariser Gegenstück, der Präsidentenpalast das Weiße Haus. Ein vor fünf Jahren errichteter Wohnblock sieht aus wie eine Kopie der Moskauer Lomonossov-Universität im Neobarock der Stalinzeit, unweit davon entsteht die neue Oper im Stil eines klassischen griechischen Tempels. Und dennoch sind die Vorhaben des 2001 beschlossenen „Generalplans“ für die Stadtentwicklung erst zum kleinen Teil realisiert.

Architekturprofessor Amanzhol Tschikanajew, Projektverantwortlicher des „GenPlan“, hat noch viel vor: „Mein Vorbild ist Oscar Niemeyer“ – der Schöpfer der südamerikanischen Neubau-Hauptstadt Brasilia –, erklärt er uns selbstbewußt und schwärmt im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT vor einem riesigen Diorama von einer durchgrünten Stadt mit intelligenter Park- und Verkehrsplanung „wie in deutschen Großstädten“. Bis die geländewagenverliebten Kasachen das von ihm ins Auge gefaßte Radwegenetz annehmen, dürfte es freilich noch dauern. Nutzen könnte man es ohnehin nur in der warmen Jahreszeit. Im beißenden Winter flaniert keiner lange draußen, sondern lieber in riesigen Einkaufsmeilen wie dem von Norman Foster als gigantisches Nomadenzelt konzipierten „Khan Schatyr“– mit seinen fünf Ladenetagen und Wellnessbad unter der Kuppel.

„Es gibt kein anderes Land, das sich in zwanzig Jahren dynamischer entwickelt hätte als Kasachstan“ – der Stolz, mit dem das Staatsoberhaupt während des Festakts zum 20. Jahrestag der Selbständigkeit Bilanz zog, ist nicht unberechtigt. Nasarbajew kann im repräsentativen Palast der Unabhängigkeit, in dem ein Jahr zuvor auch schon der OSZE-Gipfel getagt hatte, mit bemerkenswerten Zahlen aufwarten: Das Brutto-Nationalprodukt hat sich von 1993 bis 2009 von elf auf 148 Milliarden Dollar verdreizehnfacht, Exporte und Importe haben sich verzehnfacht, der nationale Rücklagenfonds ist seit seiner Einrichtung 2001 von 1,2 auf 33,7 Milliarden Dollar angewachsen.

Die kasachische Sprache gewinnt rasch an Boden

Von einer vielleicht noch bedeutenderen Erfolgsbilanz legt die Delegation junger Leute Zeugnis ab, die genauso alt sind wie ihre Republik und in fließendem Kasachisch ihren Stolz auf ihr Land und ihre Sprache bekunden.

Noch zu Sowjetzeiten schien die endgültige Verdrängung des Kasachischen, einer Turksprache mit rund zehn Millionen Sprechern auf einer Fläche von der Größe Kerneuropas, in die Folklore nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Heute ist Kasachisch Staatssprache und gewinnt gegenüber dem lange dominierenden Russischen rasch an Boden. Man wolle allerdings keine umgekehrte Verdrängung, versichert unser Gewährsmann, sondern eine „Dreiheit der Sprachen“: Die Mehrheit der Kasachen soll sowohl Kasachisch als auch Russisch, die Lingua franca der Region und des postsowjetischen Raumes, sowie Englisch als Sprache der globalisierten Wirtschaftswelt beherrschen. Schade nur, daß dabei trotz der Rückkehr vieler Aussiedler das Deutsche, nicht zuletzt wegen der passiven deutschen Kultur- und Sprachpolitik, in der Bedeutung zunehmend zurückfällt.

Tanztheater und Massenchoreographie, Gesangseinlagen, Chöre und Videoinstallationen – in der Festveranstaltung zum Unabhängigkeitstag im nagelneuen Sport- und Eishockeystadion von Astana erleben wir, wie eine identitätsstiftende nationale Geschichtserzählung im Pop-Zeitalter aussehen kann: Der Stolz auf die nomadische Tradition und die eigene kulturelle Überlieferung gehört dazu, die Befreiung von Gulag und Sowjetterror, der freiwillige Verzicht auf das ansehnliche Atomwaffenarsenal aus der Erbmasse der Sowjetunion, weil deren Nukleartestgelände in Semipalatinsk einst das Land verseucht hat, die Rolle Kasachstans in der Raumfahrt über den Stützpunkt Baikonur, die Einheit und Eintracht der 140 ethnischen Gruppen und 40 religiösen Denominationen, und schließlich die neuerbaute Hauptstadt als Symbol der Eigenständigkeit. Das Publikum auf den Rängen geht begeistert mit.

Sein Rohstoffreichtum hat es Kasachstan ermöglicht, sich durch eine geschickte „multivektorale“ Außenpolitik zwischen den rivalisierenden Kraftzentren Rußland, China, USA und Europa in geopolitisch brisanter Lage internationales Ansehen als „Epizentrum des Friedens“ in einem unruhigen Großraum zu erwerben. Der Ruf als verläßlicher Stabilitätsanker der Region ist bislang weder durch die verstärkten Aktivitäten islamistischer Gruppen im vergangenen Jahr noch durch die Unruhen in der südwestkasachischen Ölstadt Schanaösen am Kaspischen Meer angekratzt worden, wo ausgerechnet am Tag der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten ein seit Monaten schwelender Streit um Lohnforderungen entlassener Ölarbeiter blutig eskalierte und 17 Todesopfer forderte.

Der Konflikt blieb lokal, die Parlaments- und Kommunalwahlen am 15. Januar wurden trotz des noch geltenden Ausnahmezustands auf ausdrückliche Anordnung des Präsidenten auch in Schanaösen durchgeführt. Am Wahlsieg seiner Partei „Nur Otan“ („Leuchtendes Vaterland“) konnte ohnehin kein Zweifel bestehen. Zwei weitere Parteien haben die hohe Sieben-Prozent-Hürde genommen und ziehen neben der Präsidentenpartei, die bisher alle Sitze innehatte, in das kasachische Parlament, den „Majlis“, ein: die wirtschaftsliberale „Ak Schol“ („Heller Weg“) und die Kommunisten. Neun der 107 Sitze sind ohnehin für ernannte Vertreter der Minderheiten und Volksgruppen, darunter auch der mehrere hunderttausend Deutschen, reserviert.

OSZE-Wahlbeobachter aus Deutschland und Österreich würdigten durchaus den professionellen Wahlverlauf und die Öffnung hin zu mehr Pluralismus. Die OSZE als solche hat freilich auch diese Wahl wieder als „undemokratisch“ kritisiert. Die meisten Bürger Kasachstans wird das kaum kümmern; ihnen sind vorerst Teilhabe am Wohlstand und wirtschaftliche Freiheit wichtiger als Parteipolitik. Die Herausbildung eines demokratischen Staatsbewußtseins ist in einem Land, das in weniger als einem Jahrhundert vom Mittelalter in die Moderne katapultiert wurde, eine Sache von Generationen. Der wirtschaftliche Aufschwung und die internationalen Erfahrungen, die immer mehr junge Kasachen wie unser Reisegefährte Nursultan sammeln, werden diesen Prozeß zwangläufig beschleunigen.

In der Realpolitik wiegen gleichlaufende ökonomische Interessen ohnehin schwerer als abstrakte Demokratisierungsrhetorik. Entsprechend treffen am 8. Februar Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kasachstans Staatschef Nasarbajew wieder in Berlin zusammen. Thema: die Unterzeichnung des im vergangenen Jahr ausgehandelten Rohstoffabkommens, das Deutschland exklusiven Zugang zu kasachischen Bodenschätzen und Kasachstan deutsche Technologie für die Modernisierung des Landes zusagt.

Foto: Boulevard zum Präsidentenpalast in der Hauptstadt Astana: Binnen weniger Jahre ist aus der leeren Steppe Kasachstans eine futuristische Großstadt emporgewachsen

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