© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/12 03. Februar 2012

Im nationalen Gedächtnis eingegraben
Charles Dickens: Viktorianischer Publikumsmagnet und soziales Gewissen
Heinz-Joachim Müllenbrock

Wenn das Wort Volksschriftsteller nicht einen leicht abwertenden Beiklang hätte, würde es auf den am 7. Februar 1812 geborenen Charles Dickens genau zutreffen. Im Schaffen dieses populärsten und repräsentativsten Autors des viktorianischen England haben wir es mit einem literatursoziologischen Modellfall zu tun: einer geradezu idealtypischen Übereinstimmung zwischen literarischer Produktivität und Publikumsgeschmack.

Bereits mit seinen frühesten Arbeiten eroberte Dickens die Gunst der Leserschaft im Sturm. Sein literarischer Erfolg aus dem Stand hing aufs engste mit einem medialen Innovationsschub zusammen. Nachdem schon die in Zeitschriften veröffentlichten „Sketches by Boz“ (1833/36) Anklang beim Publikum gefunden hatten, wurde der vierundzwanzigjährige Londoner Zeitungsreporter mit seinem ersten Roman „The Posthumous Papers of the Pickwick Club“ (1836/37) gleich zum Star am englischen Literaturhorizont.

Dieser Triumph basierte ganz wesentlich auf der Veröffentlichung des Romans in Monatsfolgen – Dickens sollte diese Erscheinungsweise sein Leben lang beibehalten. Indem er – ähnlich wie die heutzutage produzierten Fernsehserien seiner Bücher – für mehr als ein Jahr das Unterhaltungsbedürfnis seiner Leser befriedigte, erreichte er ein Massenpublikum, das sich mit den schrulligen, mit köstlichem Humor gezeichneten Figuren um den gütigen Mr. Pickwick und seinen pfiffigen, für seine Wortwitze und Kalauer berühmt gewordenen Diener Sam Weller – letzterer ein ins Cockney-Milieu versetzter Sancho Panza – identifizieren konnte. Die in ihrer Episodenhaftigkeit an den Schelmenroman erinnernden „Pickwick Papers“ breiten ein Kaleidoskop realistischer Genrebilder aus.

Mit der Veröffentlichung von „Oliver Twist“ (1837/39) begann Dickens’ Wende zu Melodrama und Sozialkritik. In dieser das Sentimentale und Schreckliche dick auftragenden Geschichte eines Waisenknaben hat er seine traumatischen Kindheitserlebnisse emotional verarbeitet – die demütigenden Erfahrungen des Schuldgefängnisses Marshalsea, wo sein Vater inhaftiert war, des Armenhauses und der Arbeit in einer Schuhwichsefabrik haben sein literarisches Schaffen bis zum Ende begleitet.

Die von George Cruikshank illustrierte Szene, in der Oliver zum Entsetzen des Aufsehers um einen Nachschlag der dünnen Haferschleimsuppe bittet, hat sich unauslöschlich im nationalen Gedächtnis eingegraben. Die gutartige Komik der „Pickwick Papers“ ist einer bedrückenden Vergegenwärtigung der sozialen Mißstände gewichen. Der Eindruck eines großen Armenhauses wird stimmungsmäßig durch die Beschreibungen der einem dunklen Höhlenlabyrinth gleichenden Londoner Slums untermalt.

Daß Dickens mit seiner Neuausrichtung das viktorianische Publikum weiter in seinen Bann zog, wurde durch die Aufnahme von „The Old Curiosity Shop“ (1840/41) bestätigt. Die Geschichte von der ihren Großvater auf seinen Wanderungen aufopferungsvoll begleitenden kleinen Nell ist durch ein heute als peinlich empfundenes Übermaß an Rührseligkeit gekennzeichnet. Eine süßliche Diminutivrhetorik, in der Adjektive wie „little“ und „small“ Hochkonjunktur haben, drückt dieser Erzählung ihren Stempel auf. Nur in die Mysterien viktorianischer Mentalität Eingeweihte können wohl nachvollziehen, daß Nells Tod ganz England in Trauer gestürzt haben soll!

In seiner mittleren Schaffensperiode suchte Dickens neue Wirklichkeitsbereiche zu erschließen. So nimmt er in „Martin Chuzzlewit“ (1843/44) Egoismus und Heuchelei als Grundübel der englischen Gesellschaft unter die Lupe, während er in „Dombey and Son“ (1847/48) die seelische Verhärtung eines kaltherzigen Geschäftsmannes schildert. Hoch in der Gunst der Kritiker steht von jeher Dickens’ Lieblingsbuch „David Copperfield“ (1849/50). In diesem autobiographisch geprägten Bildungsroman verkörpert der Held, der das Martyrium seiner Kindheit überwindet, mit seiner erfolgreichen Eingliederung in das bürgerliche Leben viktorianisches Wertebewußtsein.

Trotz ausgeprägterer psychologischer Tendenzen setzen auch in diesen Romanen zahlreiche phantastisch-komische Figuren wichtige Akzente. Doch obwohl Gestalten wie der zum Synonym eines Heuchlers gewordene Pecksniff aus „Martin Chuzzlewit“ und der unverwüstliche Mr. Micawber aus „David Copperfield“ bis heute in der angelsächsischen Vorstellungswelt fest beheimatet sind, hat Dickens’ Kollege Anthony Trollope sie aufgrund ihrer grotesken Überzeichnung als so unwirklich empfunden, daß er ihrem Schöpfer vorwarf, dabei auf die Beachtung der menschlichen Natur verzichtet zu haben.

In seinem Spätwerk wurde Dickens zum sozialen Gewissen Englands. Seine Romane durchdrang jetzt ein bitterer Ton, der seiner wachsenden Auflehnung gegen gesellschaftliche Defizite Ausdruck verlieh. Die nur noch selten durch den früheren Humor aufgehellte Verdüsterung seines Ausblicks zeigt bereits der Roman „Bleak House“ (1852/53) an, der die Bedrohung des Menschen durch Institutionen zum Gegenstand hat, in diesem Fall durch den Court of Chancery, dessen Verschleppungstaktik das satirische Fazit zeitigt, daß ein Erbschaftsprozeß eingestellt wird, weil die Verfahrenskosten das umstrittene Vermögen verschlungen haben. Der thematischen Akzentuierung arbeitet in symbolischer Verdichtung das berühmte Eingangskapitel vor, in dem der sich um den Gerichtshof ausbreitende Nebel die Undurchsichtigkeit des Rechtswesens verkörpert.

Am entschiedensten äußerte sich Dickens’ sozialer Protest in dem Roman „Hard Times“ (1854), mit dem er sich dem Typus der neuen Industriestadt des Nordens zuwandte. Dieser Roman ist eine herbe Anklage der materiellen und geistigen Not des Industrieproletariats im fiktiven Coketown. Die von dem Symbol der Kohlengrube beherrschte Stadt ist durch eine öde, den Menschen niederdrückende Gleichförmigkeit gekennzeichnet. Dickens‘ scharfe Kritik gilt, unter dem Einfluß von Carlyles „Past and Present“ (1843), dem Utilitarismus Benthamscher Provenienz, der die Menschen zu bloßen Rädchen eines seelenlosen Triebwerks herabwürdige. Dickens’ Warnung vor dem Verlust humaner Substanz in der Industriegesellschaft weist schon auf ein zentrales Thema von D. H. Lawrence’ Romanen voraus. Gegen die inhumane Welt Coketowns zieht der revolutionären Konzepten abholde Dickens bezeichnenderweise nicht mit klassenkämpferischen Parolen oder marxistischer Systemkritik ins Feld, sondern setzt ihr das apolitische Gefühlsmoment spontaner Menschlichkeit entgegen.

Auch in seinem historischen Roman über die Französische Revolution, „A Tale of Two Cities“ (1859), verharrte Dickens innerlich im Gesichtskreis der englischen Gegenwart. Das Buch ist Abbreviatur großen Stils und veranschaulicht holzschnittartig die Verderbtheit der herrschenden Adelskaste und so die Notwendigkeit der Erhebung der unteren Klassen. „A Tale of Two Cities“ ist als politischer Thesenroman auf pragmatische Aktualisierung angelegt, um das England der Gegenwart davor zu warnen, die französischen Versäumnisse zu wiederholen.

Die Folgen solchen Fehlverhaltens hat Dickens in spektakulärer Weise ausgemalt. Seine Darstellung der Erstürmung der Bastille ist eine in der Weltliteratur unübertroffene Vergegenwärtigung des Höhepunkts eines Massenaufstandes. Nachdem er in „Barnaby Rudge“ (1841) schon die antikatholischen Gordon Riots einprägsam beschrieben hatte, übertrifft er in „A Tale of Two Cities“ sogar die eindrucksvolle Schilderung des Historikers Carlyle in dessen „The French Revolution“ (1837). Wasser-Metaphorik als kongeniale Bildsphäre für die Wiedergabe einer in Bewegung befindlichen und elementarste Instinkte austobenden Menschenmenge einsetzend, ahmt Dickens die Prozeßhaftigkeit des Anstürmens gegen die Bastille brillant nach. In Dickens’ bestürzender Studie in Massenpsychologie hatten seine viktorianischen Leser das gefürchtete Ungeheuer der Revolution unmittelbar vor Augen. Dickens’ impliziter Aufruf zu frühzeitiger Reformbereitschaft in „A Tale of Two Cities“ verriet seine zunehmende Skepsis hinsichtlich einer positiven politisch-gesellschaftlichen Entwicklung seines Landes.

Dickens dürfte der nach Shakespeare am häufigsten zitierte Autor englischer Sprache sein. Seinen Einfluß auf die Weltliteratur bezeugen Schriftsteller wie Dostojewski und Kafka.

Nachdem Dickens in den späten Jahren durch die öffentlichen Lesungen aus seinen Werken auf ausgedehnten Vortragstourneen bereits Kultstatus erreicht und das Theater sich seiner Romane schon zu Lebzeiten bemächtigt hatte, hat er es durch die Verarbeitung seiner Bücher in Film, Rundfunk und Fernsehen zu einer kaum überbietbaren medialen Präsenz gebracht. Viele seiner komischen Charaktere führen ein von ihrer ursprünglichen literarischen Existenz abgelöstes Eigenleben und sind in der englischsprachigen Welt zu festen Bezugsfiguren auch für Menschen geworden, die vermutlich nie einen Roman von Dickens gelesen haben.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Mario Vargas Llosa (JF 42 /11).

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