© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/12 03. Februar 2012

Das Reich – eine ewige Herausforderung
Vor 1050 Jahren wurde mit der Krönung Ottos I. erstmals ein deutscher Kaiser gekrönt – 1962 war dieses pikante Datum ein Politikum
Stefan Scheil

Das Jahr 1962 stellte die Bundesrepublik Deutschland vor eine außergewöhnliche Herausforderung. Exakt tausend Jahre würden am 2. Februar des Jahres vergangen sein, seit mit Otto I. in Rom ein deutsches Staatsoberhaupt zum Kaiser gekrönt worden war. Aus einem deutschen König wurde damals durch den Segen des Papstes ein Kaiser, wohlgemerkt kein Kaiser von Deutschland, sondern der Kaiser, im Prinzip weltliches Oberhaupt der Christenheit und zugleich jedes anderen christlichen Staatsoberhaupts. Das hatte weitreichende Folgen für die gesamte deutsche Geschichte gezeigtigt. Seit der Kaiserkrönung verstand sich der Staatsverband in der Mitte Europas als ein Reich in antik-römischer Tradition und damit als das Zentrum der europäischen Welt. In ihm stellten die Deutschen die Mehrheit, so daß es sich schließlich einbürgerte, von einem Reich deutscher Nation zu sprechen. Ohne den Reichsbegriff konnte deutsche Geschichte seitdem gar nicht gedacht werden. Aber was sollte man im Jahr 1962 damit anfangen?

Schon im Vorjahr hatte es in Sachen „Reich“ Auseinandersetzungen gegeben. Im Januar 1961 hatte sich die zweite Reichsgründung, die von Versailles, zum neunzigsten Mal gejährt. Das Bundeskabinett debattierte angesichts dessen über die naheliegende Frage, ob aus diesem Anlaß nicht eine Feierstunde angebracht sei. Immerhin berief sich die Bundesrepublik offiziell auf die staatliche Kontinuität zu eben diesem Reich. Der Präsident des deutschen Bundestags wollte daher eine entsprechende Rede halten und Bundesinnenminister Gerhard Schröder forderte einen Gedenkaufruf der Bundesregierung. Es gelang dem von irgendwelchen Reichsgedanken wenig begeisterten Kanzler Adenauer, diese Vorhaben abzuwürgen. Er konnte allerdings nicht verhindern, daß Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier das Reich am 18. Januar 1961 vor dem Bundestag wenigstens erwähnte, „das bis zum heutigen Tag nicht aufgehört hat zu bestehen“.

Ein Jahr später stand nun also das Jubiläum des „tausendjährigen“ Reiches an. Siebzehn Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus hatte der Begriff des „tausendjährigen“ besonders im Verbindung mit „Reich“ allerdings einen ganz besonders schalen Beigeschmack. Da auch keine direkte staatliche Kontinuität bestand, war die Bundesregierung zudem nicht unmittelbar gefordert. Sie hätte andererseits aber diesen augenscheinlich weniger politisch belasteten Anlaß leichter für ein Gedenken an die Substanz dessen, was Deutschland ausmachte, nutzen können – wenn er denn weniger politisch gewesen wäre.

Tatsächlich war seit 1945 in Zusammenhang mit dem Reichsbegriff gar nichts mehr unpolitisch oder selbstverständlich. Ihn grundsätzlich auszuradieren, war vom amerikanischen Präsidenten in einer finsteren Erklärung zum Kriegsziel ausgerufen worden: „Nehmen sie bitte zur Kenntnis, daß ich nicht gewillt bin, zu diesem Zeitpunkt zu sagen, wir beabsichtigten nicht, die deutsche Nation zu zerstören. Solange es in Deutschland das Wort ‘Reich’ gibt als Inbegriff der Nationalität, wird es immer mit dem gegenwärtigen Begriff des Nationalgefühls in Verbindung gebracht werden. Wenn wir das einsehen, müssen wir danach streben, eben dieses Wort ‘Reich’ und alles, wofür es steht, auszumerzen.“ Was Franklin Delano Roosevelt mit diesen Worten seinen Stabschefs verkündet hatte und auf internationalen Konferenzen gelegentlich wiederholte, sollte die alliierte Besatzungspolitik besonders der westlichen deutschen Kriegsgegner prägen. So wurde es ein Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet im realen Sozialismus der DDR ein Begriff wie „Reichsbahn“ bis 1990 überlebte.

Im Westen übersah man solche Details nicht. Hier ließ sich der Kampf gegen das Reich auch in die Spaltungspolitik gegenüber dem Kriegsgegner einbinden. Mit feinem Sinn für Symbolik ließen die Alliierten daher kurz nach Kriegsende die bis dahin in Nürnberg gelagerten Reichskleinodien des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation nach Wien bringen. Das verstieß nach Auffassung deutscher Staatsrechtler gegen das Nürnberger Verwahrungsprinzip von 1423 und war selbst für Regierungschef Adenauer zuviel. Er strengte eine Anfrage der Bundesregierung auf höchster Ebene an, beim amerikanischen Hochkommissar John McCloy. Man forderte die Rückgabe der Reichskleinodien, bekam im Jahr 1950 aber eine negative Antwort.

Diese alliierte Aktion stand keineswegs im Widerspruch zur geplanten Schaffung eines „Österreichbewußtseins“ bei den Deutschen in der Alpenrepublik, sondern setzte im Rahmen dieser Neuschöpfung die Trennung des Reichsbegriffs von der deutschen Nation in origineller Weise fort. Da Österreich künftig nicht mehr als Teil Deutschlands zu betrachten sein sollte, aber die Reichssymbole verwaltete, waren sowohl „Reich“ wie „Österreich“ in einen Gegensatz zum neukonstruierten „Deutschland in den Grenzen von 1937“ gebracht. Dennoch sollten sich natürlich auch die Österreicher in erster Linie als Republikaner betrachten und das Reich aus dem Alltag schleunigst in den Bereich der Folklore verbannen. Der frischgegründeten Österreichischen Volkspartei etwa wurde 1945 von seiten der französischen Besatzungsmacht bedeutet, den Begriff Reich aus den Bezeichnungen ihrer Parteiorganisation zu tilgen, andernfalls würde er offiziell verboten werden. Man beeilte sich, diesen Wünschen nachzukommen.

Immerhin wurden in Österreich im Jahr 1962 die Tausendjahrfeiern zur Kaiserkrönung Ottos des Großen abgehalten. In der Bundesrepublik Deutschland fand nichts dergleichen statt. Vor einem halben Jahrhundert fehlte dort der Mut, die Zumutungen der Kriegsniederlage zu überwinden und ein ganzes Jahrtausend zu feiern. Der bundesdeutsche Staat zog es vor, sich grundsätzlich von der deutschen Geschichte abzusetzen und sich einzubilden, Deutschland hätte früher nach Westen sehen sollen, statt selbst die Mitte zu sein. Daran änderten auch die aus heutiger Sicht liebenswürdigen Eigenschaften des Alten Reichs nichts, sein Wahlkönigtum oder seine umständliche Rechtsverfassung, in der die Stände mehr Mitspracherechte genossen als in der europäischen Nachbarschaft.

„Teutsche Freiheit“ hieß das einmal in einer Rechtsordnung, in der als erster in Europa die Abschaffung der Sklaverei kodifiziert wurde und in der ein Kaiser wie Friedrich Barbarossa den mühevollen Rechtsweg beschreiten mußte, um ungetreue Lehnsmänner zur Rechenschaft zu ziehen, die damals „im Westen“ umstandslos gehenkt worden wären. Auch dies ins deutsche Geschichtsbewußtsein mit einzubeziehen, bleibt wohl weiter eine Herausforderung.

Foto: Das Heilige Römische Reich im Jahr 972, spätere Illustrationen Ottos I. in Weltchronik-Handschrift und Siegel: Reichskleinodien wurden von den Alliierten ganz bewußt nach Österreich gebracht

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