© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/12 03. Februar 2012

Großbürgerlicher Exzentriker
Eine Zeitreise durch das Werk des US-amerikanischen Schriftstellers Gore Vidal
Jakob Apfelböck

Als sich Gerhard Schröder, so sagt die Legende, im Jahr 1999 für den Sommerurlaub mit seiner Familie nach einem Quartier im sonnigen Süden umsah, richtete sich sein Blick nicht auf die Toskana, sondern weiter südlich auf den Golf von Salerno. Dem frischgebackenen Bundeskanzler mit seinen hochfliegenden Ambitionen erschien das mondäne, sich auf einem Felshang in 350 Metern Höhe majestätisch über dem azurnen Mittelmeer erhebende Anwesen „La Rondinaia“ in Ravello einfach angemessener als irgendeiner dieser so urwüchsigen wie kitschigen Landsitze weiter nördlich, auf denen seine Standesgenossen und Weggefährten sich in den Parlamentsferien der besinnlichen Weinseligkeit hinzugeben pflegten. Leider teilte der Eigentümer des „Schwalbennestes“, der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal, die Begeisterung deutscher Unternehmer, politische Prominenz beherbergen zu dürfen, nicht, und auch die italienische Regierung, die Schröder Beistand gewährte, war zu machtlos, um den Hausherrn umzustimmen. „Ich vermiete nun einmal prinzipiell nicht an Verwaltungsangestellte“, von diesem Grundsatz sollte es auch für den deutschen Bundeskanzler keine Ausnahme geben.

Selbst wenn diese Begebenheit bloß gut erfunden sein sollte, charakterisiert sie Gore Vidal doch in zutreffender Weise: Als großbürgerlichem Exzentriker ist ihm kein Tabubruch zu ungeheuer und keine Pointe zu bitter. Vidal entstammt einer politisch engagierten Familie, die es, wie er kokett anzumerken weiß, gewohnt ist, Präsidenten zu stellen. Tatsächlich war sein Großvater immerhin Senator, und sein Vater amtierte als Minister unter Franklin D. Roosevelt. Sowohl Jimmy Carter als auch Al Gore zählen zur weitläufigen Verwandtschaft. Von kleinauf war Vidal daher mit dem politischen Führungspersonal der USA, insbesondere jenem demokratischer Provenienz, vertraut. Eigene Anläufe, eine politische Karriere zu ergreifen, versandeten jedoch regelmäßig schon frühzeitig. Sein Metier wurde stattdessen die Literatur – als Romanschriftsteller, Essayist, Broadway-Autor und nicht zuletzt Drehbuchfabrikant für Hollywood.

In die Rolle eines Enfant terrible hat er sich bereits mit einem Frühwerk begeben, in dem er sich des für die Nachkriegszeit noch ungewöhnlichen Themas Homosexualität in freimütiger Manier annahm. Seither scheint er diese Sonderstellung zu genießen. Die Ziele seiner snobistischen Invektiven sind Legion, zu seinen bevorzugten gehören die USA selbst: Sie werden nach seiner Auffassung von Konzernen kontrolliert, an deren Gängelband ununterscheidbare Politiker und gleichgeschaltete Medien hängen. Dies klingt zwar nicht wesentlich differenzierter als die Litanei von Michael Moore, doch wo dieser ohne Esprit auskommt, weiß Vidal auch bei kurzatmiger Analyse noch durch das geschliffene Bonmot zu erheitern.

Einen Eindruck davon vermittelt der von Stefan Dornuf übersetzte und herausgegebene Band „Vereinigte Staaten von Amnesia“. Er ist als eine „Zeitreise“ durch Vidals Werk angelegt und vereint neben Interviews Auszüge aus essayistischer und erzählerischer Prosa. In seinen „Zwischentexten“ bietet Dornuf, der nicht nur einer der herausragendsten Kenner der angelsächsischen Gegenwartsliteratur, sondern auch mit Vidal persönlich bekannt ist, Erläuterungen und Kommentierungen zu Autor und Werk. Da er dem Tonfall des Amerikaners dabei in frappierender Weise nahe kommt, sind diese Stücke von dessen Originaltexten auf Anhieb kaum zu unterscheiden. Die Herausgabe dieses Buches zu Beginn der Amtszeit von Barack Obama sollte nicht als Anachronismus abgetan werden. Die Zeitkritik Vidals hat sich mit dem Ende der Ära Bush nicht erledigt.

Gore Vidal: Vereinigte Staaten von Amnesia. Eine Zeitreise durch sein Werk zum 85. Geburtstag. Verlag Müller & Nerding, München 2011, broschiert, 180 Seiten, Abbildungen, 18,20 Euro

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