© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Politische Kommunikation
Wahrheit und List
Klaus Motschmann

Die sogenannte politische Kultur in Deutschland wird durch systematische, permanente und demonstrative Mißachtung wichtiger Grundregeln verantwortlicher Kommunikation bestimmt. Dazu gehört unter anderem der unausrottbare Irrtum, daß es genügt, die eigene Meinung als „Wahrheit“ zu deklamieren und widersprechende Meinungen als Ausdruck ideologischer Verwirrung zu diffamieren. Die alte Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit?“ wird kaum noch ernsthaft diskutiert. Im wesentlichen geht es stattdessen nur darum, wie man die „Wahrheit“ verbreiten kann; nämlich in erster Linie mit der Anwendung von „List“.

Der konservativer Neigungen unverdächtige Bert Brecht hat dazu in einem lesenswerten Essay („Die fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“) wesentliche Leitlinien dieser Methode entwickelt, die auch heute noch gelten. Es ist die „List“, daß diese Praktiken kaum noch von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden, womit günstige Voraussetzungen für ihre Verbreitung geschaffen werden. Selbstverständlich hat es energischen Widerspruch gegen dieses Verständnis von Wahrheit gegeben.

In diesem Zusammenhang ist an den evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) zu erinnern, der in seiner vielbeachteten „Ethik“ auf die Notwendigkeit einer deutlichen Distanz zu solch listenreichem Verständnis von „Wahrheit“ folgendes bemerkt: „Es ist der Zyniker, der unter dem Anspruch, überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise ‘die Wahrheit zu sagen’, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt. Indem er sich den Nimbus des Wahrheitsfanatikers gibt, der auf menschliche Schwachheiten keine Rücksicht nehmen kann, zerstört er die lebendige Wahrheit zwischen den Menschen. Er verletzt die Scham, entheiligt das Geheimnis, bricht das Vertrauen, verrät die Gemeinschaft, in der er lebt und lächelt hochmütig über das Trümmerfeld, das er angerichtet hat. Es ist eine Satansweisheit.“

Es kommt nach einer Faustregel für alle Mittler politischer Bildung nicht allein darauf an, daß sie verstanden werden, sondern auch, daß sie nicht mißverstanden werden. Dies ist jedoch in zunehmendem Maße der Fall und trägt zu weiterer Desorientierung bei. Quousque tandem – wie lange noch?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin. 

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