© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Politik mit „Gefällt mir“-Knopf
Direkte Demokratie: Im Internet lädt die Bundesregierung die Bürger ein, über die Zukunft Deutschlands nachzudenken
Sverre Schacht

Es klingt ein wenig nach direkter Demokratie: Bürger dürfen auf einer Internetseite der Bundeskanzlerin ihre „Vorstellungen von Deutschland in fünf bis zehn Jahren“ ausbreiten. Seit Anfang des Monats will Bundeskanzlerin Angela Merkel wissen, welche „Ideen der Bürgerinnen und Bürger und der Zivilgesellschaft“ zum Thema Zukunft ihr bislang möglicherweise entgangen sind.

Getreu dem Motto „Menschlich und erfolgreich. Dialog über Deutschlands Zukunft“ soll der Internetauftritt jedem Interessierten ermöglichen, sich zu den vermeintlichen Zukunftsthemen zu äußern. Bis Ende März will die Bundeskanzlerin zudem bei drei Bürgergesprächen „direkt diskutieren“, nämlich mit den zehn „besten“ Teilnehmern aus dem Netz.

Die Kanzlerin beziehungsweise ihr Stab versteht die Maßnahme als „Bürgerdialog“. Gesucht werden „konkrete Handlungsvorschläge, und zwar am besten solche, die die Bundespolitik mit Anregungen und Ideen konfrontieren.“ Merkel erbittet sich Vorschläge, die sie weiterverfolgen kann: „Sei es in der Gesetzgebung oder mit anderen Initiativen“. Die Themen sind begrenzt auf die Fragen „Wie wollen wir zusammenleben?“, „Wovon wollen wir leben?“ und „Wie wollen wir lernen?“. Der Reiz für die Teilnehmer liegt im Versprechen, jeder bekomme eine Antwort – zu fremden Beiträgen seine Meinung zu äußern, ist im virtuellen Gespräch ausdrücklich erwünscht.

Vom Prinzip her ahmt die Idee so die sozialen Netzwerke nach: Politik mit „Gefällt mir“-Knopf. Von der Opposition kommt Kritik. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Thomas Oppermann, findet es „politisch grenzwertig, daß die Kanzlerin dazu mit viel Geld und vielen Mitarbeitern einen Stab im Kanzleramt aufbaut“.

Anderen drängt sich dagegen der Verdacht auf, Merkel schaffe ein Ventil für Politikverdrossene. Daß die Kanzlerin nebenbei mit „Experten“ spricht, nimmt den Bürgerideen Gewicht. Mit dem für Juni angekündigten Begleitbuch, spätestens aber zur Abschlußveranstaltung im September muß Merkel Farbe bekennen: Entsorgt sie Mißliebiges in der Druckform oder nimmt sie die Anstöße des Forums in neue Gesetze auf? Ihr eigener Kommentar: „Wir haben so etwas noch nie gemacht“, unterstreicht eher den Eindruck von Hilflosigkeit. Die Tagespolitikerin Merkel ahnt, daß ihr etwas fehlt – Themen, die den Menschen unter den Nägeln brennen.

Zu grundsätzlich darf es aber nicht werden, so bittet Merkel, „keine philosophischen Abhandlungen“, also keine Grundsatzfragen zu senden. Trotz des Vorgabenkorsetts muß sie die Gegenentwürfe durchaus fürchten: 11.000 Kommentare beschäftigen sich etwa mit dem Thema „Offene Diskussion über den Islam“. Es sind die meisten Stimmen in der Rubrik „Wie wollen wir zusammenleben?“, die meisten Stimmen zu einem Einzelaspekt überhaupt.

Dieser zugleich bestbewertete Beitrag kritisiert: „Islamkritiker werden bestenfalls ignoriert, meist aber diffamiert, Islamkritik wird pathologisiert und kriminalisiert.“ Derlei Ergebnisse haben bereits die üblichen Verdächtigen auf den Plan gerufen. Wenn der Dialog nicht vor Manipulation geschützt werde, kapern ihn die Rechtsextremen, warnte am Montag der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck.

Pauschale Ausländerfeindschaft schließt indes schon die vorherige Sichtung der Beiträge aus. Die Gefahr, daß der Dialog für Kampagnen von Außenstehenden mißbraucht wird, besteht indes durchaus. Kritiker klagen bereits über Mehrfachabstimmungen. Doch angesichts vieler für Politiker ungewohnter, da parteipolitisch kaum vertretener Themen wie etwa „Eigene deutsche Identität stärken“ mit 3.500 Stimmen, überwiegt in der Politik der Wunsch nach Bestätigung. „Denn Deutschland soll so bleiben, wie es ist. Menschlich und erfolgreich“, lautet ein von Merkel verbreitetes Credo der Seite. Der Bürgerwunsch nach sachlicher Auseinandersetzung über die neuen Themen ist indes in der Welt.

https://www.dialog-ueber-deutschland.de

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