© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Zwischen Aggression und Ignoranz
Syrien: Trotz steigender Opferzahlen spielen die Weltmächte ihr Katz-und-Maus-Spiel um Macht und Einfluß
Günther Deschner

Zwischen Enttäuschung und politischen Schuldzuweisungen oszillierten am vergangenen Wochenende die Reaktionen auf Rußlands und Chinas Veto gegen eine von den Westmächten und den sunnitischen Golfstaaten betriebene Syrien-Resolution. Auch die Stimmung auf der gleichzeitig stattfindenden Münchner Sicherheitskonferenz, auf der US-Außenministerin Hillary Clinton versucht hatte, ihren russischen Kollegen Sergej Lawrow umzustimmen, spiegelte diese Gefühlswelten wider. „Rußland und China haben jedes kritische Signal an Bashar al-Assad abgelehnt“, erklärte Katars Vize-Außenminister Khalid Mohamed al-Attiyah: „Das ist eine Lizenz zum Töten.“

Katar ist derzeit der vorgeschickte Kritiker Syriens in der arabischen Welt – das Sprachrohr der sunnitischen Führungsmacht Saudi-Arabien. Tunesiens neuer Premier Hamadi Jebali von der sunnitischen Ennahda-Partei konnte auf dem Podium bereits die Abberufung seines Botschafters aus Damaskus melden und forderte seine arabischen Kollegen auf, dem Beispiel zu folgen.

Mit einem alarmistischen Kommentar zu dem Vorschlag, der Westen solle doch Waffen an die „Freie Syrische Armee“ der Aufständischen liefern, goß US-Senator Joseph Lieberman bei der Münchner Konferenz noch mehr Öl ins Feuer: „Wir können ihnen Geheimdiensterkenntnisse liefern, wir können ihnen Waffen liefern, wir können sie ausbilden.“ Nur eines könne man nicht mehr – „weiter abwarten“.

Da Waffenlieferungen an die „Freie Syrische Armee“ wohl über die Türkei liefen, gerät Syriens Nachbarland, das bis vor kurzem noch einen guten Draht nach Damaskus hatte, verstärkt ins Blickfeld. Ankaras Außenminister Davutoğlu hielt sich in München allerdings bedeckt und verlegte sich mehr aufs Dozieren: Rußlands Njet nannte er ein „Verhaftetsein im alten Denken des Kalten Krieges“. Rußlands Außenminister Lawrow erklärte das Veto damit, daß man ein „libysches Szenario“ habe verhindern wollen. Der Entwurf habe einseitig die harte Repression durch die Sicherheitsorgane des syrischen Präsidenten Assad verurteilt und zu wenig Druck „auf die andere Seite“ ausgeübt. In München erklärte er: „Unser Ziel ist es, den internationalen Frieden und die Sicherheit zu wahren.“ Das sei die Aufgabe des Sicherheitsrates – und nicht „die Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten“. Er mißbilligte, der Sicherheitsrat wolle „unzulässigerweise Partei ergreifen in einer inneren Angelegenheit“.

Ähnlich argumentierte auch Peking: Der Ansatz, den die Resolution verfolgte, sei „simplifizierend“. Die Unterstützung der einen und die Ablehnung der andern Seite führe nur zu mehr Gewalt. Als abstoßende Beispiele wurde auf das Vorgehen des Westens in Libyen, Afghanistan und im Irak verwiesen. „Die Gewalteruptionen als Folge der Regimewechsel“ hätten erst recht zu einer menschlichen Katastrophe geführt.

Jenseits der tatsächlichen oder vorgeschobenen Besorgnisse Chinas (und auch Rußlands) um Regimewechsel und Einmischung in innere Angelegenheiten bot sich mit dem doppelten Veto die Möglichkeit, den „Westen“ in die Schranken zu weisen. Amerikas Vorgehen gegenüber Iran, und mehr noch die deren Ambitionen im Pazifik schüren Unbehagen. Die „westliche Aggression“, schreibt die Pekinger Global Times, ein Ableger der Volkszeitung, bedränge China „unangemessen“.

Die wieder härter ausgetragenen amerikanisch-russischen Zwistigkeiten und Amerikas neue Pazifikstrategie lassen Peking sogar die Option einer chinesisch-russischen Allianz in der Weltpolitik herbeischreiben. Daß sich China in der Syrienfrage in Moskaus Windschatten bewegt, gibt dieser Sicht Auftrieb.

Mag sein, daß sich in Moskaus und Pekings Kalkül ein wenig auch das angekränkelte Selbstbewußtsein einer gewesenen Weltmacht und die Unsicherheit einer noch immer ihre Rolle suchenden aufsteigenden Supermacht spiegeln, doch vor allem dürften beide Vetomächte ihre Entscheidung nach einer nüchternen globalstrategischen Kosten-Nutzen-Rechnung getroffen haben.

Syrien ist ein alter Verbündeter Rußlands im Nahen Osten und – nach Indien und Algerien – ein guter Waffenkunde. Die engen Beziehungen haben das Ende des Kalten Krieges überdauert. Mit dem Ende Assads fürchtet Rußland nicht nur um lukrative Rüstungsverträge, sondern auch den Verlust seiner Marinebasis in Tartus, des einzigen Stützpunkts außerhalb des postsowjetischen Raumes und des Zugangs zum Mittelmeer. Erst im Januar hatte Moskau mit dem Besuch einer ganzen Flotte, darunter der einzige russische Flugzeugträger „Admiral Kusnezow“, den strategischen Wert des syrischen Hafens markiert. Der Stützpunkt wird gerade ausgebaut: Russische Kriegsschiffe auf dem Weg in den Indischen Ozean werden dort aufgetankt, und er symbolisiert den Anspruch auf eine „Rückkehr Moskaus“ in den Nahen Osten und darüber hinaus.

Auch geopolitisch kommt Rußland die bisherige Politik Assads und dessen iranischer Partner gelegen, weil sie ein Gegengewicht zur Dominanz der USA in der Region zu bilden versuchen. Naturgemäß ist Moskau nicht daran interessiert, an der Beseitigung der letzten US-freien Zone im Nahen Osten mitzuwirken. Für die politische Projektion Rußlands geht es um die Verhinderung der US-Pläne, in Kooperation mit den arabischen Golfstaaten aus dem östlichen Mittelmeer und dem Persischen Golf ein „amerikanisches Meer“ zu machen.

Lawrow hat diese Marschroute bei seinem Neujahrsempfang vorgegeben. „Außenpolitik basiert auf dem festen Boden nationaler Interessen, frei von Ideologie“, sagte er da. Schon 2003 hatte er Washingtons Werben um Rußlands Unterstützung beim Irak-Krieg abtropfen lassen. Nicht umsonst machte ihn Wladimir Putin schließlich zum Außenminister. Er wünsche sich, sagte er neulich, daß „unsere westlichen Partner sich endlich von der Illusion der Ewigkeit ihrer Dominanz verabschiedeten“.

Foto: Gegen die Gewalt der Sicherheitskräfte: Das brutale Vorgehen gegen die Opposition zieht in einem Vorort von Damaskus Tausende auf die Straße

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