© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

„Er machte uns Mut“
Internationale Gesellschaft für Menschenrechte: Eine persönliche Erinnerung an den vergangene Woche verstorbenen Gründungsvater Iwan I. Agrusow
Wulf Rothenbächer

Am 1. Februar 2012 verstarb mit 87 Jahren Iwan Iwanowitsch Agrusow. Er war von 1972 bis 1985 Geschäftsführer der von ihm gegründeten Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM). Zwei Schlaganfälle erlaubten ab 1985 nur noch eine beratende Tätigkeit in der Geschäftsstelle, die aber außerordentlich nützlich war-

Geboren wurde Agrusow am 2. Oktober 1924 in Petschory (Estland). Er entstammte einer tiefgläubigen russisch-orthodoxen Familie, sein Glaube und christliche Nächstenliebe leiteten ihn sein Leben lang. Der Einsatz für die Menschenrechte war für ihn eine Ehrensache. Bis zuletzt war er zudem Mitglied im Vorstand der orthodoxen Kirchengemeinde in Frankfurt am Main. Nach der Wiedervereinigung erhielt er das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Schon mit 17 Jahren geriet er als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft. Durch den Rückzug der Wehrmacht verschlug es ihn nach Bayern. Die Amerikaner lieferten ihn aber in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Sowjets aus. Dem sicheren Tod im Gulag konnte er sich durch Flucht aus einem sowjetischen Gefangenenlager in der Tschechei zurück nach Westdeutschland entziehen. Alle ehemaligen Rotarmisten und Fremdarbeiter wurden damals als Staatsfeinde eingestuft und entsprechend behandelt. Mit Freunden engagierte er sich im Bund der russischen Solidaristen (NTS) zur Unterstützung von Exilrussen, die nicht zurück in die Sowjetunion und damit in den Gulag wollten. Somit wurde er zum noch gefährlicheren Staatsfeind für die UdSSR und ihrer hiesigen Sympathisanten. Über 1.000 Seiten zählt seine Stasi-Akte. Nach einer spontanen Demonstration für die Menschenrechte gründete er dann im April 1972 die Gesellschaft für Menschenrechte, später umbenannt in die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, die heute weltweit politisch oder religiös Verfolgten hilft. Mit Frau und zwei Kindern lebte er in Frankfurt am Main.

Agrusow war ein eher stiller und bescheidener Mann mit eisernem Willen, der doch so viel bewegt hat. Kennenlernen durfte ich ihn Mitte der siebziger Jahre. Mit einigen ehemaligen politischen Häftlingen wechselte ich von einem Häftlingsverein zur IGFM. Dort erwarteten wir, effektiver für unsere noch einsitzenden Kameraden in den Zuchthäusern der DDR tätig werden zu können. Wir sollten nicht enttäuscht werden. In Agrusow hatten wir einen kundigen Mentor gefunden und gründeten nach seinem Ratschlag den Arbeitsausschuß „Bürgerrechtsbewegung und politische Gefangene der DDR“(AA- DDR). Er begleitete, steuerte und förderte alle unsere Bemühungen. Ohne ihn wäre so einiges nicht zustande gekommen oder sogar mißraten. Die IGFM und besonders der AA-DDR waren als „Feindorganisation“ im Fokus der Stasi sowie deren Sympathisanten in der Bundesrepublik. Der Druck von Politik und Medien war schwer zu ertragen. Agrusow steuerte uns durch schweres Gelände und machte uns Mut. Er vermittelte aber stets den Eindruck, wir hätten es selber gemeistert. Das war ein unschätzbarer Motivationsschub. Das Wichtigste waren immer Einzelschicksale und deren genaue Schilderung ohne Polemik, obwohl wir oft genug vor Zorn bebten. Da war eine ruhige, führende Hand wichtig. Er hatte immer die Übersicht. Wir waren ja alle Freizeitkämpfer und fest im eigenem Berufsleben verankert.

Inwieweit diese Arbeit zur Wiedervereinigung beigetragen hat, bleibt Spekulation. Eines jedoch ist sicher: Vielen wurde Mut gemacht und anderen die Augen geöffnet.

Iwan Iwanowitsch Agrusow hat tiefe Spuren in der Zeitgeschichte hinterlassen. Was er angestoßen hat, lebt über seinen Tod hinaus.

 

Dr. med. Wulf Rothenbächer war in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) bis 1990 Sprecher des Arbeitsausschusses Bürgerechtsbewegung und politische Gefangene der DDR.

Die IGFM hat weltweit 30 Sektionen und nationale Gruppen. „Verfolgte Christen“ sind heute ein Arbeitsschwerpunkt des gemeinnützigen Vereins.

www.igfm.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen