© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Die Todsünden der Geschichtswissenschaft
Klios Verderben
Wolfgang Kaufmann

Napoleon Bonaparte bemerkte einmal: „Geschichte ist die Lüge, auf die sich alle geeinigt haben.“ Noch etwas drastischer drückte sich Schopenhauer aus, indem er der Geschichtsmuse Klio attestierte, sie sei „mit der Lüge so durch und durch inficirt [...], wie eine Gassenhure mit der Syphilis.“ Nun, gelogen wird auch heute noch. Doch das ist nicht mehr das Hauptproblem, weil allzu plumpe Unwahrheiten im Zeitalter der Informationsgesellschaft keine große Überlebenschance haben.

Folgenschwerer ist dagegen Klios momentane Vorliebe für irrelevante Fragestellungen, welche die Geschichtswissenschaft streckenweise zu einer Karikatur ihrer selbst verkommen läßt. Schuld daran sind mächtige Institutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft, deren Förderpraxis zunehmend fragwürdig wird. Muß man denn tatsächlich mühsam erarbeitete deutsche Steuergelder dafür verpulvern, Forschungen zu Themen wie „Figurationen des Weiblichen in koptischen hagiographischen Texten“, „Eigentumskulturen russischer Eliten im 18. Jahrhundert“, „Migrationsbewegungen und Siedlungspolitik in der Republik Türkei (1923–1950)“ oder „Die Abstinenzbewegung in Bulgarien 1879–1944“ zu alimentieren?

Ja, sagen die stets anonym agierenden Gutachter, welche ansonsten als Lehrstuhlinhaber in Amt und Würden stehen und allen Ernstes glauben, daß sie die Avantgarde der Forschung verkörpern, weil die wohlwollenden Rezensenten ihrer jüngsten Elaborate nicht den Mut oder die Weitsicht besaßen, das Nichtvorhandensein von des Kaisers neuen Kleidern zu reklamieren.

In Wirklichkeit sind die alteingesessenen wissenschaftlichen Claimbesitzer und Pfründeninhaber vielfach schöpferisch ausgebrannt oder gar inkompetent: Da gerieren sich Schreibtischstrategen als Militärhistoriker, obwohl sie keinen einzigen Tag in ihrem Leben eine Uniform getragen oder eine Waffe in der Hand gehalten haben, da gibt es Kolonialhistoriker, die sich über die Verhältnisse in Afrika oder Asien verbreiten, ohne je ihren Fuß auf diese Kontinente gesetzt zu haben, da melden sich Sozialhistoriker zu Wort, welche eher Sozialromantiker sind und im akademischen Elfenbeinturm leben, weshalb sie nicht einmal die Verhältnisse ihrer Zeit geschweige denn früherer Zeiten verstehen, da machen „Osteuropahistoriker“ Karriere, die keine einzige osteuropäische Sprache beherrschen und so weiter.

Und derartige „Kapazitäten“ bestimmen nun maßgeblich mit, wer aus der Masse der über jeden realistischerweise zu erwartenden Bedarf hinaus ausgebildeten Nachwuchswissenschaftler zum erlauchten Kreis der staatlich besoldeten Historiker hinzustoßen darf. Innovative Querdenker und andere Hochbegabte kommen da natürlich eher schlecht weg – diese Talente werden in der Regel niedergehalten oder ganz verbissen, um sicherzustellen, daß es keine unerwünschten Paradigmenwechsel gibt und die professoralen Sonnenkönige und Selbstdarsteller nicht durch ihre vergleichsweise geringe fachliche Originalität auffallen.

Dazu kommt die eiserne Selbstzensur des akademischen Mittelbaus. Schließlich sind mittlerweile vier Fünftel aller Wissenschaftler an deutschen Hochschulen unterhalb des Professorenranges befristet angestellt. Und davon wiederum hat laut dem Hochschul-Informations-System jeder zweite einen Vertrag, dessen Laufzeit weniger als ein Jahr beträgt! Auf diese Weise wird ein unübersehbares Heer von Leisetretern und Konformisten herangezüchtet, deren Gedanken bestenfalls um die Überwindung der nächsten Karrierehürde und schlechtestenfalls um eine drohende Hartz-IV-Zukunft kreisen. Es versteht sich von selbst, daß ein solcher Zustand wenig wissenschaftlichen Fortschritt, aber jede Menge Stagnation hervorbringt.

Außerdem ist es so, daß Historiker heute meist in einem linksorientierten akademischen Milieu sozialisiert werden, wo marxistisches Gedankengut wohlgelitten ist, wohingegen konservative Positionen von studentischen Schreihälsen und allerlei anderen Sittenwächtern als „rechtsextrem“ denunziert werden. Eine weitere Landplage sind die – beileibe nicht nur weiblichen – feministischen Aktivisten, welche mittlerweile auch die geschichtswissenschaftliche Diskussion prägen und sich zu Platitüden wie der versteigen, „daß der Westen orientalische Frauen sinnlich und erotisch findet und daß er sich den Orient auch über seine Frauen aneignen will“.

Natürlich gibt es auch staatlich besoldete Historiker, die wider den Stachel löcken, aber diese sind eher in der Unterzahl; sie werden erbittert bekämpft und durchaus auch mal vor Gericht gezerrt. Ein Beispiel hierfür ist der renommierte Tübinger Althistoriker Frank Kolb, der mundtot gemacht werden sollte, weil er offen gegen die wissenschaftliche Schaumschlägerei an seiner Universität opponiert hatte. Nicht zu vergessen auch die Opfer des sogenannten „Historikerstreites“, wie die menschenverachtende Hetzjagd gegen den todkranken Kölner Ordinarius Andreas Hillgruber und andere konservative Fachvertreter verharmlosend genannt wird.

Ebenfalls kein Ruhmesblatt für die Geschichtswissenschaft sind die fortwährenden Angriffe auf Forscher wie Bogdan Musial, welche doch nichts anderes tun, als ihre absolute Pflicht und Schuldigkeit als Historiker, die darin besteht, sich auf Quellen zu stützen statt auf das bunte Sammelsurium von wohlfeilen Vorurteilen und Dogmen, welche unsere ach so tolerante „Zivilgesellschaft“ heute im schnelleren Takt produziert als manch sinistre Diktatur am anderen Ende der Welt.

Überhaupt: Der Umgang mit den Quellen! Hier zeigt sich ein weiteres Mal, wie hinfällig Klio inzwischen geworden ist. Quellenkritik wird nämlich immer mehr zur Nebensache – gut zu beobachten am Umgang mit dem sogenannten „Vernichtungsbefehl“ von Trothas während des Hereroaufstandes, der zwar schon unendlich oft zitiert, aber kaum einmal wirklich vor dem Hintergrund der konkreten Entstehungssituation analysiert wurde. Manchmal steht der Umgang mit den Quellen sogar unter dem expliziten Vorbehalt der ideologischen oder religiösen Unbedenklichkeit der Ergebnisse wie beim Berliner Corpus-Coranicum-Projekt.

Einige der etablierten Historiker haben aber wohl auch deshalb Probleme im Umgang mit Quellen, weil derselbe natürlich Archivbesuche erfordert. Doch derart beschwerliche Aktivitäten fernab vom eigenen Schreibtisch sind nicht jedermanns Sache. Zwei, die das offenbar nicht auf sich nehmen wollten, waren Eckart Conze und Norbert Frei, ihres Zeichens Mitverfasser der hochgejubelten Studie „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“.

Wie Frank Walter, ein einfacher Magazinmitarbeiter des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, in einer Diskussionsrunde nachwies, waren die beiden Ordinarien während ihrer „tiefgründigen Recherchen“ einen einzigen Tag vor Ort gewesen. Trotzdem erkühnten sie sich, den Bediensteten des Archivs mangelhafte Kooperation und eine verdächtige Gesinnung zu unterstellen. Für seine mutige Gegenwehr bekam Walter dann übrigens den Spezialpreis Zivilcourage des Deutschen Beamtenbundes.

Ebenso zu wünschen übrig läßt die Stichprobenauswahl, wenn es um quantitativ unterfütterte Aussagen geht. So präsentierte Christian Hartmann vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin „pars pro toto“ für die „Wehrmacht im Ostkrieg“ drei Front- und zwei Besatzungsverbände, wobei er offen zugab, daß damit „die vermutlich kriminelleren Teile der Wehrmacht bewußt überrepräsentiert sind“. Dies hielt ihn freilich nicht davon ab, seinen „Ausschnitt“ als „Modell des Ostheeres“ auszugeben.

Und wie weit her ist es mit der statistischen Signifikanz der Befunde von Sven Oliver Müller, einem ehemaligen Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, dessen Karriereweg ebenfalls kontinuierlich nach oben führt? Müller behauptet in seiner Studie „Deutsche Soldaten und ihre Feinde“, Wehrmachtssoldaten hätten eine „massenhafte Kenntnis“ von Kriegsverbrechen und Völkermord gehabt. Als Beleg hierfür legt er Zitate aus einigen hundert Feldpostbriefen vor. Das Problem ist nur, daß die 18 Millionen Deutschen, welche von 1939 bis 1945 Kriegsdienst leisteten, schätzungsweise 40 Milliarden Briefe in die Heimat gesandt hatten.

Trotz der methodischen und inhaltlichen Dürftigkeit vieler geschichtswissenschaftlicher Publikationen aus der Feder von Vertretern der professoralen Elite und deren Satelliten entfachen die Verlage jedesmal einen riesigen Trubel um die Neuveröffentlichungen solcher Provenienz – und willfährig-naive Rezensenten in Presse und Internet sorgen dann für die nötige Lobhudelei. Wohl um diese Claqueure nicht zu überfordern, verlangen viele sogenannte „Wissenschaftsverlage“ von den Autoren seit längerem, daß sie die Ergebnisse ihrer Forschungen auf „lesbaren“ 200 bis 300 Seiten komprimieren – egal, ob sich damit ein komplexer Sachverhalt adäquat darstellen läßt oder nicht. Und auf detaillierte Fußnoten, welche für Transparenz hinsichtlich der verwendeten Quellen sorgen, wird gleich ganz verzichtet, was natürlich besonders dann praktisch ist, wenn die Quellenbasis sowieso eher fragil daherkommt.

Angesichts der geschilderten Umstände könnte man nun enttäuscht versucht sein, die Suche nach wirklich relevanten und zugleich innovativen Beiträgen, in denen nicht ständig aus den ewig gleichen Quellen die ewig gleichen Aussagen abgeleitet werden, aufzugeben. Doch es gibt solche Beiträge. Sie kommen einerseits von den obengenannten Dissidenten und andererseits von einer Historikerspezies, welche man heute euphemistisch Freie Historiker nennt, sofern ihre Existenz nicht gleich dem Totschweigen anheimfällt.

Die meist promovierten Mitglieder dieser Gruppe erhalten weder Anstellungen noch Fördermittel, weshalb auf sie die Janis-Joplin-Sentenz „Freedom’s just another word for nothing left to lose“ zuzutreffen scheint. Doch so arm dran sind diese Freien Historiker gar nicht! Die Tatsache, daß sie problemlos in der Lage sind, ihr Geld in anderen Berufen zu verdienen, verschafft ihnen nämlich eine wissenschaftliche Unabhängigkeit, über welche die wenigsten akademischen Historiker verfügen: Diese müssen sich auf Gedeih und Verderb auf dem einmal gewählten Karriereweg durchschlagen, was im Normalfall auf Anpassung hinausläuft.

Freie Historiker betätigen sich heute unter anderem auf dem Gebiet der Geheimdienstgeschichte. Damit sind sie ihren etablierten beziehungsweise saturierten Fachkollegen um einiges voraus, denn bisher hat man an kaum einer Universität oder staatlichem Forschungsinstitut begriffen, welche Schlüsselbedeutung gerade die Auswertung der riesigen, vielfach zum Teil noch völlig ungenutzten Bestände aus geheimdienstlichen Quellen für das Verständnis historischer Vorgänge der Neuzeit hat.

Alles in allem läßt sich diagnostizieren, daß Klio nicht nur vom Bazillus der Lüge befallen ist, sondern auch vom Virus der politischen Korrektheit. Dazu kommen weitere Gebrechen wie multiple Inkompetenz und galoppierendes Duckmäusertum. Deshalb ist ein Exitus nicht mehr auszuschließen.

 

Dr. Wolfgang Kaufmann, Jahrgang 1957, Historiker, lehrte an der Universität Leipzig und ist heute im privaten Bildungssektor tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Masseneinwanderung in der Spätantike („Roms Ruin“, JF 36/11).

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