© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/12 10. Februar 2012

Arme Opfer, aber letztlich selber schuld
Eine Sozialstudie des Jenaer Historikers Dietmar Süß über die Folgen des Bombenkriegs in Deutschland und England
Dirk Wolffsimon

War der Luftkrieg im Ersten Weltkrieg noch ein Kampf zwischen tollkühnen Kämpfern, so veränderte er sich auf Seiten aller Beteiligten als Option zum Angriff auf die „Hauptschlagadern“, gegen das „Herz und Hirn“ des Feindes, zur Zerschlagung seines Industriepotentials und zur Vernichtung menschlicher Ressourcen. Die anhaltende Kontroverse am Beispiel der verheerenden alliierten Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945 verdeutlicht, wie schwer es auch nach 67 Jahren ist, die historische Forschung vom bleiernen Nebel volkspädagogisch definierter Geschichtsinterpretationen zu befreien.

Zur Bewertung des Bombenkrieges sind in den letzten Jahren eine Reihe von Büchern erschienen, die entgegen einer langjährigen Tabuisierung zu einer ungeschminkten und mutigen Aufarbeitung der Ereignisse beigetragen haben. Erinnert sei dabei vor allem an Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“ (JF 50/02) und Björn Schumachers Auseinandersetzung mit dem alliierten Luftkrieg gegen Deutschland unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten („Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“, JF 8/09).

Als Ergänzung der vorliegenden Arbeiten hat sich der Jenaer Historiker Dietmar Süß mit seinem Buch „Tod aus der Luft“ auch aus der Perspektive der Sozial- und Kulturgeschichte gewidmet. Durch einen ungewohnten Paradigmenwechsel erhält der Leser einen facettenreichen und vergleichenden Einblick in die durch den Bombenkrieg geprägten sozialen Verhältnisse im Deutschen Reich und Großbritannien. Auf fast 580 Seiten untersucht Süß die Auswirkungen des Bombenkrieges auf die öffentliche Meinung, vermittelt ein Bild über die Organisation der Notstandsgesellschaft, erinnert an die Chancen, die man in beiden Ländern in einem Wiederaufbau zerstörter Städte sah, gibt Einblicke in die Welt des Bunkerlebens und der damit zusammenhängenden hygienischen Verhältnisse und setzt sich auch mit der Erinnerungskultur und der Traumatisierung der Betroffenen auseinander.

Inhaltlich verspricht das Buch somit spannende Einblicke, doch wird der Autor, angesichts des von ihm gesteckten Rahmens, den Erwartungen nur teilweise gerecht. In der Einordnung der militärischen und politischen Verantwortung für die rapide Eskalation des Bombenkrieges auf britischer Seite zieht sich Dietmar Süß bereits in der Einleitung auf zwar gängige, aber mittlerweile sehr angreifbare Erklärungsmuster zurück. Und obgleich sich das Buch in den folgenden Kapiteln durch einen durchaus hohen Informationsgehalt und Quellenverweise auf fast 200 Seiten auszeichnet, werden für die Gesamteinordnung der Ereignisse wesentliche Aspekte unterschlagen oder gehen in euphemistischen Glättungen unter. Beispielsweise weist Süß Deutschland mit dem Verweis auf deutsche Luftschläge auf Guernica, Rotterdam, Belgrad und vor allem Coventry die moralische Verantwortung für den exzessiven „Vergeltungseinsatz“ britischer Bomber gegen deutsche Städte zu.

Auch auf das bereits frühzeitig definierte Ziel der „Terrorangriffe“ gegen die deutsche Zivilbevölkerung geht Süß nicht ein. Geradezu ignorant verhält sich Süß bei der Bewertung von Intention und Konzeption der britischen Bombenkriegsstrategie und hierbei insbesondere bei der Frage der Verantwortung des britischen Premiers Winston Churchill und seines Luftmarschalls Arthur Harris („Bomber-Harris“). Für Süß ist Harris, als der militärisch Verantwortliche für die britischen Bombenangriffe besonders des moral bombing auf Deutschland, „nicht der blutige Schlächter, als den ihn die deutsche Führung dargestellt hat“. So vermeidet es Süß folglich auch, bei der Frage nach der Verantwortung für die Flächenbombardements gegen deutsche Städte durch britische Bomber konkrete Schuldzuweisungen vorzunehmen: „Wir werden diese Frage, Luftkrieg als Kriegsverbrechen, nie mit einem klaren Ja oder Nein beantworten können. Und man muß sich auch vergegenwärtigen, gegen wen man diese Art von Krieg geführt hat.“ Dabei lassen sich für den Autor die Folgen der britischen Luftangriffe in den Jahren 1941 bis 1943 mit den Folgen der deutschen Bombardements englischer Städte in den Jahren 1940/41 durchaus vergleichen – geradezu grotesk, wenn man die Beispiele Coventry und Hamburg heranzieht: Wurden beim deutschen Angriff auf Coventry knapp sechs Prozent der Stadt zerstört, sind bei der „Operation Gomorrha“ in Hamburg durch britische Bomber 74 Prozent des Zentrums der Millionenstadt zerstört worden!

Der volkspädagogische Duktus in der Bewertung der Faktenlage wird auch an der einen oder anderen Stelle des Buches deutlich, wie beispielsweise bezüglich der deutschen Bombenkriegsopfer. Anders als die britische Opferzahl von etwa 60.000 korrigiert Süß beinahe geschichtsklitternd ohne nähere Quellenangabe die Gesamtzahl der deutschen Bombenkriegsopfer um ein Drittel der bisher geltenden Zahl von geschätzt 550.000 bis 600.000 Toten auf 380.000. Die subjektiv gefärbte Thematisierung von Konzeption und Zielsetzungen des Bombenkrieges auf deutscher und englischer Seite stellt daher die wesentliche Schwäche des Buches dar.

Abschließend fällt das Urteil über das Buch von Dietmar Süß daher geteilt aus: Eine verfehlte und mißglückte Darstellung in der konzeptionellen und strategischen Einordnung des Bombenkrieges, jedoch eine sehr aufschlußreiche Aufarbeitung der sozialen und kulturellen Segmente der historischen Ereignisse, die für den historisch Interessierten zweifellos einen Mehrwert mit sich bringt.

Dietmar Süß: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England. Verlag W. J. Siedler, Berlin 2011, gebunden, 720 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro

Foto: Gedenken am Totensonntag vor einer Ruine, Dresden 1946: Traumatisierung der Betroffenen

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