© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/12 17. Februar 2012

Im Zweifel gegen die Abschiebung
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Europas Richter geben rechtlich wie politisch die Richtung vor und treffen selten auf nationalen Widerstand
Sverre Schacht

Für Großbritanniens konservativen Premier David Cameron ist das Faß längst übergelaufen. Angesichts über 160.000 unerledigter Fälle und schwer nachvollziehbarer Urteile, die oftmals traditionelles nationales Recht desavouierten, müsse der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nun dringend reformiert werden. Hintergrund der harten Worte vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Ende Januar: Der EGMR hatte entschieden, daß der Islamist und mutmaßliche Bin-Laden-Vertraute Abu Qatada aufgrund möglicher Folteraussagen von Zeugen nicht nach Jordanien ausgeliefert werden darf.

EGMR? Kaum jemand kennt das 1959 ins Leben gerufene Gericht, das auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zusammentritt. Doch hat es Macht über rund 816 Millionen Menschen, die Bevölkerung der 47 Unterzeichnerstaaten der EMRK. Diese haben sich dem Gerichtshof und seinem Urteil verpflichtet. Entscheidungen der Richter haben laut Bundesverfassungsgericht Orientierungswirkung für deutsches Recht selbst dann, wenn der EGMR in Verfahren ohne deutsche Beteiligung entscheidet. Die 47 Richter, darunter die deutsche Professorin für internationales Recht Angelika Nußberger, urteilen inzwischen zu allen Rechtsbereichen, auch im Zivilrecht. Die Einrichtung ist so zum Ziel rechtspolitischer Kampagnen geworden. Hinweisgeber („Whistleblower“) und Aktivisten nutzen sie als Instrument – die Verfahren sind kostenfrei.

Deutschland verstößt gegen die Eigentumsrechte von Erben, stellte der EGMR erst im Dezember fest. Erben eines deutschen Unternehmers hatten geklagt, weil die DDR ihren Besitz enteignet und zu Staatseigentum erklärt hatte. Das Grundstück gehörte zuvor einer jüdischen Familie und war 1939 an den Kläger veräußert worden. Nun rügte das Gericht die Bundesrepublik. Bisher hatten deutsche Gerichte eine Entschädigung der Unternehmerfamilie verweigert, und zwar unter Berufung auf das Vermögensgesetz. Dessen vom bundesdeutschen Gesetzgeber rückwirkend beschlossene Änderung sei „eine Ungleichheit zugunsten des Staates und zuungunsten der Beschwerdeführer“, so der EGMR jetzt (Nr. 5631/05).

Auch wenn Juristen gerne betonen, wie vergleichweise gut deutsches Recht sonst vor dem EGMR besteht, so sind die EMRK-Mitgliederstaaten zugleich dem Gerichtshof und dessen mitunter überraschenden Rechtsakten unterworfen.

Deutschland liegt im Gegensatz zur Türkei (2011: 174), Rußland (133) oder der Ukraine (105) mit 41 Verurteilungen im oberen Mittelfeld. Darunter fallen Verurteilungen in puncto Sicherungsverwahrung. Als unzulässig wurden Beschwerden über teilnahmepflichtigen Sexualkundeunterricht an Schulen bewertet. Recht bekamen dagegen zwei Demonstranten, die während des G8-Gipfels 2007 rechtswidrig fünf Tage in Gewahrsam genommen wurden sowie eine Altenpflegerin, der nach dem Aufdecken von Mißständen am Arbeitsplatz fristlos gekündigt worden war. Deutschland muß ihr 10.000 Euro Schmerzensgeld zahlen und Prozeßkosten von 5.000 Euro übernehmen, entschieden die Menschenrechtsrichter. Die Richter werden von den 47 Vertragsstaaten vorgeschlagen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates wählt dann einen der drei vorgeschlagenen Kandidaten für das neunjährige Richteramt aus.

Nicht nur anhand von Einzelfällen auf nationaler Ebene stets abgewiesener Klagen zeigt sich der EGMR als europäische Rechtsgröße wachsender Bedeutung. Die Zahl der Beschwerden an den ständig tagenden Gerichtshof steigt kontinuierlich. Gab es 1999 noch 8.400 Eingaben, waren es 64.500. Bis dato haben sich so gut 160.000 Beschwerden angestaut. Das zwingt die Institution, nach Dringlichkeit vorzugehen, um den Rechtsweg nicht zu lang werden zu lassen.

Doch gerade zu lange Rechtswege der Nationalstaaten sind immer wieder Gegenstand von Richtsprüchen der in Straßburg beheimateten Instanz gegen diese Länder. In einem Piloturteil stellte das Gericht 2010 fest, zu lange dauernde Rechtsverfahren seien in Deutschland generell ein Problem, auch wegen fehlender rechtlicher Unterstützung. Der Großteil der Beschwerden vor dem EGMR scheitert allerdings, ohne daß die Richter irgendeine Stellungnahme zu Rate ziehen, aus rein formalen Gründen. Das Gericht will dem mit Informationen entgegenwirken. Zugelassen sind nämlich nur einerseits Klagen einzelner Personen oder Organisationen gegen Mitgliedsstaaten sowie andererseits Klagen von Mitgliedsstaaten untereinander.

Individualbeschwerden sorgen für die meisten Verfahren. Sie sind an Auflagen gebunden. So können nur Vertragsstaaten und nicht Personen angeklagt werden und das nur für Ereignisse seit ihrem Beitritt zur EMRK. Garantierte Rechte müssen verletzt worden sein, so daß nicht jedes als Unrecht empfundene staatliche Handeln angreifbar ist. Nur wer betroffen ist, kann klagen und auch nur, wenn alle Rechtswege ausgeschöpft sind. Nach dem letzten Urteil auf staatlicher Ebene muß die Klage binnen sechs Monaten beim EGMR eingehen. Sie kann in der Sprache jedes Mitgliedslandes abgefaßt sein, somit auch in Deutsch.

Bei erfolgreicher Beschwerde bleibt es meist dem unterlegenen Staat überlassen, wie er Wiedergutmachung leisten will. Sollte das unmöglich sein, ist auch eine finanzielle Entschädigung möglich. Die EMRK fordert „eine gerechte Entschädigung“, die aber meist geringer ausfällt als erwartet. In einzelnen Ländern hat der EGMR zudem nach Landesrecht die Befugnis, höchstrichterliche nationale Urteile aufzuheben.

Neben Einzelpersonen können Staaten einander verklagen, selbst wenn sie nicht von bestimmten Rechtsakten benachteiligt sind. Dies eignet sich entsprechend als Hebel gegen einzelne Länder.

So sind konservative Briten nach dem Zweiten Weltkrieg Ideengeber der Menschenrechtskonvention, inzwischen zu den stärksten Befürwortern einer Reform des EGMR geworden. Grund sind dessen Entscheidungen: 350 Urteile gegen Großbritannien wegen angeblicher Verstöße gegen die Menschenrechte in den letzten 45 Jahren.

Auch im politischen Kampf um Ungarns konservative Regierung und deren Umgang mit den Medien stellte sich der EGMR an die Seite der Ungarnkritiker und erkannte im Juli eine Verletzung der Meinungsfreiheit durch den ungarischen Staat. Ein Journalist, der Ungarn mit drastischer Wortwahl als „Regime“ bezeichnet hatte, war in Ungarn verurteilt worden und bekam vom EGMR nachträglich recht.

Daß Urteile erheblich das nationale Recht tangieren, erlebte im Januar auch Österreich. Der EGMR stoppte erstmals eine Abschiebung von Österreich nach Ungarn. Ein Sudanese hatte sich durchgesetzt. Er war von Ungarn nach Österreich eingereist, doch entschied der EGMR zu seinen Gunsten, obwohl er nach europäischer Rechtsauffassung in Ungarn hätte Asyl beantragen müssen – ein Einzelfall, so die Richter.

Auch deutsches Abschiebungsrecht steht unter dem Vorbehalt Straßburgs, beispielsweise bei Abschiebungen von Ausländern zweiter Generation aufgrund von Drogenvergehen. In einigen Bereichen widersprach Straßburgs Auffassung sogar besonders häufig den Mitgliedsstaaten. 2010 häuften sich Entscheidungen zum Wahlrecht. So beanstandete das Gericht den Ausschluß von Strafgefangenen von der Wahl. Auch den faktischen Ausschluß von Auslandsstaatsbürgern von Wahlen rügte das Gericht – kein Wunder, daß Cameron nun dem EGMR ins Stammbuch schrieb, sich nicht als „Einwanderungstribunal“ zu gerieren.

Selbst wenn die Straßburger Richter nicht einer politischen Sicht klar den Vorzug geben, schrecken sie vor Richtungsurteilen zu stark umstrittenen Themen wie Abtreibung oder künstlicher Befruchtung nicht zurück. So legt Straßburg einen strengen Rechtfertigungsmaßstab gegenüber Staaten an, die gleichgeschlechtliche Paare nicht gleichstellen.

Seine Verfahrensregeln gibt sich der Gerichtshof dabei selbst, sogenannte „Rules of Court“. Die bestimmen unter anderem, daß Richter keine politischen Aktivitäten während ihrer Amtszeit ausüben sollen oder dem Gericht nicht vorstehen dürfen, wenn sie über landsmannschaftliche Bindungen selbst einer Streitpartei angehören. Auch bestimmen sie Straßburg zum Gerichtssitz, der von Fall zu Fall in einzelne Mitgliedsstaaten verlegt werden kann. In seiner Aufgabe, Gutachten zur Menschenrechtskonvention und ihrer Auslegung für das Ministerkomitee des Europarats zu verfassen, haben die Richter auch direkten Einfluß auf die Europapolitik. Die EU selbst ist allerdings noch nicht Mitglied der EMRK. Wie der EGMR sich „hineinurteilt ins öffentliche Bewußtsein“, so die Süddeutsche Zeitung, sorgt indes nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Deutschland weiter für Sorgenfalten. Dem Bundesverfassungsgericht als höchster deutscher demokratisch legitimierter Rechtsinstanz droht künftig mehr denn je der Generalvorbehalt.

http://www.echr.coe.int

Foto: Tagung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg: Kaum einer kennt die 47 Richter, doch deren Urteile prägen den Alltag von über 800 Millionen Menschen

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