© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/12 17. Februar 2012

Vielleicht geht es uns noch viel zu gut
Konservative Publizistik: Die „Sezession“ widmet sich der gegenwärtigen politischen und geistigen Lage
Baal Müller

Endlich ist der Damm gebrochen!“ glaubten viele Beobachter anläßlich der Sarrazin-Debatte; schließlich gelang es nicht, den Autor des Erfolgsbuches „Deutschland schafft sich ab“ vollkommen kaltzustellen, und sein Erfolg beleuchtete die Kluft zwischen veröffentlichter Meinung und tatsächlicher Problemlage in ihrer ganzen Schroffheit. Ein gutes Jahr danach hat sich jedoch wenig geändert. Die herrschende Ordnung der Selbstzerstörung liegt noch immer wie eine Grabplatte über Deutschland; ihre Risse werden größer, aber sie will nicht aufbrechen. Dieser Zustand nötigt das Institut für Staatspolitik (IfS) einmal mehr zu einer genauen Analyse, in deren Nüchternheit sich verhaltene Melancholie mischt.

„Lage 2012“ ist das aktuelle Heft der vom IfS herausgegebenen Zeitschrift Sezession betitelt, und gleich der erste Satz des Editorials reißt uns medias in res, wenn der verantwortliche Redakteur Götz Kubitschek unsere Lage als „hoffnungslos“ bezeichnet. Inwiefern braucht man angesichts der demographischen Situation nicht zu fragen – aber warum kommt es nicht einmal bei der Jugend zu einem wenigstens geistigen Aufstand? Sind deren Trägheit und betuliche Sorge um das private Behagen schon die habituellen Vorboten unserer „Lage 2062“, die bei vielen restdeutschen Altersheim-Insassen nur noch eine horizontale sein wird, in der sie sich auf den Pudding freuen und geduldig ihr Ableben erwarten?

Vielleicht geht es uns noch viel zu gut, lautet das Fazit von Kubitscheks Essay „Wir Unbeholfenen“, der immerhin noch einen Ausblick auf ein künftiges „hartes Leben“ eröffnet, in dem die rettende Umkehr sich von selbst vollzieht, wenn die Bruchlinien sich nicht mehr zukleistern lassen und die Utopie einer infantilen, sorg- und verantwortungslosen Gesellschaft widerlegt ist.

Was mit einer teils bangen, teils trotzigen Frage endet, wird von Karlheinz Weißmann und Thomas Hoof auf unterschiedliche Weise beantwortet: Der Göttinger Historiker skizziert in seinem Beitrag über „Die Politik des Als-ob“, wie diese sich seit Machiavelli zur Leitdoktrin moderner Staatskunst erhob, wie auf Täuschung aber stets auch Ent-Täuschung folgte. Heute seien wir an einem Punkt angelangt, an dem weite Teile der Bevölkerung zwar die Simulationen der politischen Klasse durchschauen, sich aber doch achselzuckend damit zufriedengeben. Weißmann ist nur allzu bewußt, daß mit Wahrhaftigkeit allein keine Politik zu machen ist. Dennoch hofft er, daß der Wahrheitsdrang – als ebenso starke anthropologische Konstante wie der Drang, zu täuschen und sich täuschen zu lassen – das Pendel auch wieder in die andere Richtung schwingen läßt.

Davon ist Thomas Hoof, der Gründer des auf „nachhaltige“ Produkte spezialisierten Warenhauses Manufactum, schon aus ökonomischen Erwägungen heraus überzeugt. Sein trotz des Titels von Gelassenheit geprägter Aufsatz „Der Tanz auf der Nadelspitze“ legt dar, auf welchen Voraussetzungen die Machbarkeitsideologie beruht, die aus den Worten des jungen Bernd Rabehl spricht, man könne sich ausdenken, „was man will, weil die Produktionskräfte es ja hergeben“. Tatsächlich schafft nur menschliche Arbeit aus knappen Ressourcen Werte, und die linken Phantasien sind nur der Überbau einer – nicht ewig – aus Öl- und Kreditschleusen durchfluteten Ökonomie des „Als-ob“. Irgendwann öffnen sich aber „die Ventile, damit die Rückstellkräfte wirksam werden“, und der Weltenlauf wird sich, allerdings unbekümmert um unsere Befindlichkeit, wieder regulieren.

Aus einer anderen Perspektive kommt der französische Publizist Alain de Benoist in einem Interview, das er der Sezession für die vorliegende Ausgabe gab, zu vergleichbaren Erkenntnissen; ja er geht wohl, indem er in seinen jüngsten Publikationen den abstrakten Charakter des Geldes analysiert, noch darüber hinaus und entwirft eine neurechte „Mammonismuskritik“.

Die theoretischen Ansätze werden durch einige konkrete Blicke auf die „Lage 2012“ flankiert: Für Felix Springer verdichtet sich diese in der „großen Verkeilung“ – einem stählernen Keil, den der New Yorker Architekt Daniel Libeskind in das im Oktober 2011 neueröffnete Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden geschlagen hat. Das absichtlich ungeschlachte, monströse Machwerk bildet die V-Formationen der alliierten Fliegerstaffeln nach und kennzeichnet „nicht Destruktion und kritischen Geist, sondern eine tiefe Ungewißheit“ in einem Selbstbild, das solche Attacken auf seine Geschichte und Tradition nicht nur zuläßt, sondern noch gutheißt und fördert.

Dem Problem der Überfremdung widmet sich JF-Autor Michael Paulwitz eher allgemein, aber in der nötigen Deutlichkeit („Deutschland, umgevolkt“), während Martin Lichmesz „Emma West als Exempel“ nimmt: Die junge Durchschnittsengländerin, in deren Namen sich Gewöhnlichkeit und „Westlichkeit“ derart symbolisch vereinen, daß er wie fingiert erscheint, gelangte im November letzten Jahres durch ein Youtube-Video zu unfreiwilliger Berühmtheit, das sie zeigt, wie sie in der Londoner Straßenbahn scheinbar grundlos „ausrastet“ und farbige Fahrgäste beschimpft. Ihre der – sonst unterdrückten und erstickten – Verzweiflung geschuldeten Ausfälle wurden durch eine ungeheure politisch-mediale Haßkampagne gegen die „Rassistin“ in den Schatten gestellt.

Aus diesen aktuellen Kontexten führt eine Debatte zwischen Stefan Scheil und Siegfried Gerlich über Ernst Noltes Stellung zum Nationalsozialismus heraus; vielleicht kommt die Schärfe ihres Aneinander-Vorbeiredens daher, daß der Berliner Historiker die Geschichte zu verstehen sucht, „Verständnis“ aber im Deutschen sowohl das Erklären als auch das Billigen meinen kann.

Ebenfalls in die Geschichte zurück weist Erik Lehnerts Übersicht zur öffentlichen Wahrnehmung des 300. Geburtstags Friedrichs des Großen, der kaum noch provoziert, aber auch nur noch wenig Verehrung genießt. Es ist sicher im Sinne der „Sezessionisten“, wenn wir von Lehnerts Aufsatz „Dreihundert“ einen Sprung zu Zack Snyders Film „300“ machen: Dieser feierte 2007 den rettenden Kampf der 300 Spartiaten unter ihrem König Leonidas gegen die persische Übermacht. Auch damals an den Thermopylen war die Lage hoffnungslos.

Kontakt: Sezession, Rittergut Schnellroda, 06268 Steigra, Telefon/Fax: 03 46 32 / 9 09 42

www.sezession.de

Sezession, Heft 46, Februar 2012, herausgegeben vom Institut für Staatspolitik, Steigra 2012, 56 Seiten, 10 Euro

Foto: Chaos: Irgendwann wird sich der Weltenlauf, unbe- kümmert von unseren Befindlichkeiten, wieder regulieren

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