© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/12 17. Februar 2012

Strudel der Verkommenheit
Sexradikalismus und Koituskultur: Alban Bergs „Lulu“ in der Semperoper
Sebastian Hennig

Otto Weininger attestierte dem Wien der Jahrhundertwende eine „Koitus-Kultur“. In Arthur Schnitzlers „Reigen“, einem Hauptwerk dieser Richtung, deren Symptome uns noch begleiten, wird der Beischlaf zum Treibriemen des Transports von Abschaum in die Spitzen der Gesellschaft.

Gegenüber dieser asozialisierenden Imprägnierung durch den niederen Eros wirkt Frank Wedekinds „Die Büchse der Pandora“ wie ein moralisierender Totentanz von apokalyptischem Format. Die enthemmte Lüsternheit in der Darstellung widerspricht dem nicht. Wir kennen das von der griechischen Tragödie, deren Wirkung auf Katharsis, nicht auf Behavior angelegt war.

Zur Uraufführung des zensierten Stückes 1905 in Wien exekutierte der Dichter selbst in der Rolle des Jack the Ripper den finalen Schnitt am Werkzeug des Teufels. Alban Berg wohnte der geschlossenen Privataufführung bei und hat in diesem katastrophischen Drama den Keim großer Opernkunst entdeckt. Er vollendete nur zwei Akte seiner Oper „Lulu“ nach den Wedekindschen Dramen „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“. Dieses Fragment wurde 1937 in Zürich uraufgeführt. Das Particell des Schlußaktes blieb lange eine Herausforderung, die niemand annehmen wollte. Den musikalischen Verlauf hatte der 1935 an einer Blutvergiftung verstorbene Berg flüchtig angedeutet. Wahrscheinlich bedurfte es erst einer Historisierung des Werkes.

Der 1979 in Paris aufgeführten Ergänzung durch Friedrich Cerha tritt seit kurzem die Neufassung von Eberhard Kloke an die Seite. Die erklang zuerst 2010 in Kopenhagen und kam jetzt in Dresden zur Premiere. Der faszinierte Zuschauer, der in den Abwärtsstrudel der Verkommenheit hineingerissen wird, spürt keinen Bruch. Die heterogene Instrumentierung der Originalteile findet ihre Fortsetzung mit dem Einsatz eines Akkordeons im düsteren dritten Akt. Das durcherotisierte Leben wird als Varieté-Traum gegeben.

Im Zentrum steht eine kleine Replik der Dresdner Opernbühne. Auf dem Altan die Zirkuskapelle, mal mit den Instrumenten posierend, mal wichtige Passagen auf der Bühne musizierend. Der Impresario präsentiert im Vorspiel das Weib als Bestie. Die nackende Gestalt löst sich mit dem Apfel aus der flachen Paradieskulisse. Ihr Umriß bleibt als Leerstelle zurück. Ein pantomimischer Jesus-Adam mit den messingnen Becken dringt halb gierig, halb vorwurfsvoll auf das Urweib ein. Die Weißclowns auf der Empore zucken und zappeln. Das Merry-Go-Round hebt an, indem das fatale Persönchen, als Verlobte des Geheimrates, einem Maler Modell steht. Als es im Atelier zum Techtelmechtel kommt, erleidet der schockierte Alte einen tödlichen Schlagfluß.

Dem Maler geht es nicht anders. Er läßt sich final zur Ader, als ihn der Lulu-Mentor und Journalist Dr. Schön, in der Hoffnung, er möge diese künftig besser hüten, deren Vorgeschichte einweiht. Die Angst vor dem Skandal erniedrigt ihn zum Sklaven seines eigenen Geschöpfs. Indem der Zeitungs-Machiavelli ihr Gemahl wird, bekommt Lulu die Basis, um als freie Radikale die zentrale Idee fixe der aufgeklärten Gesellschaft zu bedienen und zu nutzen.

Es formiert sich ein Hofstaat, dem ein Gymnasiast, eine lesbische Gräfin, ein Kraftakrobat, der Lakai des Hauses und zahlreiche weitere Personen angehören. In einer heftigen Auseinandersetzung erschießt die Luxus-Hetäre ihren Schein-Gatten. Der Schrecken ohne Ende wandelt sich zum schrecklichen Ende. In einer misogynen Pogromstimmung wird der Zuhörer und Zuschauer in die zweite Zwischenaktpause entlassen.

Eine grandiose Kunstverhetzung: Im golddurchlüsterten Foyer zwischen Stuckmarmor-Pilastern, Samtbahnen und Posamenten wandern dann die Blicke mit fasziniertem Abscheu über die ausgestellte bloße Haut der herausgeputzten Premierenbesucherinnen.

Kunstvolle Tristesse beherrscht den dritten Akt. Die erpresserische Einladung in ein orientalisches Bordell wird auf der Bühne vom Stehgeiger akkompagniert. Zu spät verkündet die lesbische Gräfin Geschwitz am Ende ihre Trennung vom Pack in der Absicht, in andere Niederungen zu steigen: „Ich lasse mich immatrikulieren. Ich muß für Frauenrechte kämpfen, die Jurisprudenz studieren.“ Dafür aber läßt ihr Jakob der Aufschlitzer keine Zeit mehr. Zuletzt kracht die ganze Bühnen-Talmiwelt zusammen wie Klingsors Zaubergarten.

Die Inszenierung ist effektvoll, aber nicht zum Selbstzweck. Die leistungsfähigen eigenen Werkstätten für Bühnenbild, Kostüm und Maske zeigen sich ebenso in Hochform wie das außerordentliche Sängerensemble und die Kapelle unter Cornelius Meister. Das Publikum fühlte sich gepackt. Ob es dem Regie-Einfall von Stefan Herheim gedanklich gewachsen oder lediglich dessen Suggestivität erlegen ist, ist einerlei – letzteres vielleicht sogar ein größeres Kompliment wert. Die „Lulu“ entstand nicht nur zeitlich nahe zu Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“. Sie hat auch den gleichen nüchternen Blick auf die dunkelböse Destruktion des entfesselten Eros.

Die nächsten „Lulu“-Vorstellungen in der Dresdner Semperoper, Theaterplatz 2, finden statt am 25. und 28. März, 19. und 22. Juni. Kartentelefon: 03 51 / 49 11 705

www.semperoper.de

Foto: Dr. Schöns Sohn Alwa (Jürgen Müller), im Hintergrund Lulu (Gisela Stille): Durcherotisiertes Leben

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen