© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Zweierlei Vergangenheiten
Das Leben ist nicht gewohnt, mit Lücken zu arbeiten: Über den Schriftsteller Erwin Strittmatter wird noch immer gestritten
Paul Leonhard

Das brandenburgische Spremberg wird seinen Ehrenbürger Erwin Strittmatter im August nicht feiern. Das hat der Hauptausschuß der Stadtverordnetenversammlung der 25.000-Einwohner-Stadt Ende Januar beschlossen. Jahrzehntelang war man stolz auf den bekannten Autoren. Eine Promenade wurde nach ihm benannt, ein Gymnasium, sogar der Literaturpreis des Landes Brandenburg. Plötzlich aber stößt sich die Mehrheit der Stadträte an dem Leben des sorbisch-deutschen Volksschriftstellers, der am 14. August hundert Jahre alt geworden wäre.

Zur Jagd auf den Toten blies ausgerechnet jene Partei, der Strittmatter vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten angehört hatte, die SPD. Strittmatter habe sich zwei Diktaturen freiwillig angedient, sei ein „Motor der Diktaturen“ gewesen, behauptet SPD-Fraktionschef Andreas Lemke. Eine Würdigung verbiete sich aufgrund Strittmatters Biographie und Lebenslügen.

Strittmatter gilt als eines der herausragenden literarischen Talente der DDR. In die Herzen der Menschen zwischen Stralsund und Dresden schrieb sich der Schriftsteller mit Büchern wie „Tinko“, „Ole Bienkopf“ und „Der Wundertäter“, Werke über die kleinen Leute, die auch an manchem Tabu rüttelten. Zuvor hatte Strittmatter lernen müssen, daß es auch ein „sozialistischer Schriftsteller“ nicht einfach hatte, seine Werke zu veröffentlichen. Der „Ochsenkutscher“ fand erst einen Verlag nachdem die Wochenpost begann, ihn als Fortsetzungsroman zu drucken. Und ob der dritte Band des „Wundertäters“ ohne den Zusammenbruch des SED-Regimes erschienen wäre, darf bezweifelt werden.

Das Publikum im geeinten Deutschland fand Gefallen an der Romantrilogie „Der Laden“, mit der er der deutsch-sorbischen Mischkultur ein Denkmal setzte und die 1998 verfilmt wurde. „Mit keinem anderen Autor haben sich die Einwohner der ehemaligen DDR so identifiziert, wie mit dem knorrigen und listigen, humorigen und schlichten Erzähler“, schrieb der Spiegel, der Strittmatter 1964 noch als „linientreu und stilarm“ charakterisiert hatte, 1994 in einem Nachruf. In der Bundesrepublik habe man den Querschädel als willfährigen SED-Literaten verkannt.

„Seine Enttäuschung über die DDR behielt der vierfache Nationalpreisträger für sich“, hieß es im Focus, als die aus dem Nachlaß herausgegebene Miniaturen-Sammlung „Geschichten ohne Heimat“ erschien. Strittmatter habe keine Resolutionen verfaßt, sondern die „eigene Skepsis gegenüber dem SED-Sozialismus lieh er seinen Romanfiguren“. Sechs Jahre später erfolgten dann angebliche Enthüllungen aus der Militärzeit. Strittmatter sollte in einer SS-Einheit gedient haben, die an Kriegsverbrechen beteiligt war. Spiegel Online behauptete sogar wahrheitswidrig, Strittmatter sei „Mitglied der Waffen-SS an der Ostfront“ gewesen.

Auslöser der bis heute wirkenden Kampagne war ein im Juni 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung abgedruckter Beitrag des Literaturwissenschaftlers Werner Liersch. Unter der Überschrift „Erwin Strittmatters unbekannter Krieg“ hieß es, Strittmatter sei 1941 zur Ordnungspolizei einberufen worden und habe als Angehöriger des Polizei-Gebirgsjäger-Regiments 18 am Partisanenkrieg auf dem Balkan und Griechenland teilgenommen. Obwohl die Polizeiregimenter im Februar 1943 für ihre militärischen Leistungen die Bezeichnung „SS“ erhielten, blieben sie Bestandteil der Ordnungspolizei, genauer der kasernierten Schutzpolizeieinheiten. Darauf weisen schon die Rangbezeichnungen mit dem Zusatz „d.Sch.“ hin, die Kriegsberichter beispielsweise in der Zeitschrift Die Deutsche Polizei verwendeten.

Tatsächlich war der gelernte Bäcker 1941, nachdem ihn die Waffen-SS ein Jahr zuvor abgelehnt hatte, zur Schutzpolizei eingezogen worden. Das hatte er auch zu DDR-Zeiten gegenüber dem Schriftstellerverband angegeben. Strenggenommen gehörte er der Ordnungspolizei an, wie alle deutschen Polizisten einschließlich der Ortsfeuerwehren, der Verkehrspolizei und des Technischen Hilfswerks. Und Heinrich Himmler war eben nicht nur Reichsführer SS, sondern auch Chef der deutschen Polizei.

Daß das Bataillon, in dem Strittmatter im Stab diente, in schwere Gefechte mit hohen eigenen Verlusten verwickelt war, läßt sich in der Regimentsgeschichte nachlesen und klingt auch in den Romanen des Schriftstellers an. „Ein Maschinengewehr, diese Schreibmaschine des Todes rasselte“, heißt es beispielsweise im ersten Teil des „Wundertäters“.

Eine konkrete Beteiligung an Verbrechen konnte Strittmatter ebensowenig nachgewiesen werden wie dem III. Bataillon. Liersch konstatiert in seinem Beitrag: „Es ist nicht bekannt, daß Strittmatter in ein Verbrechen der schrecklichen Polizisten verstrickt war, die Daniel Goldhagen ‘Handlanger des Völkermords’ nannte.“

Noch kruder sind die Theorien des Historikers Bernd-Rainer Barth, der Strittmatters Darstellung, er sei nur als Kompanieschreiber tätig gewesen, in einer Diskussion im Jahr 2009 mit der Begründung zurückwies, die „Schreibaufgaben waren höheren Dienstgraden vorbehalten“. Strittmatters Dienstgrad entsprach aber als Oberwachtmeister dem eines Unterfeldwebels oder Feldwebels der Wehrmacht. Mit mehr als einem Nachweis, daß Strittmatter zwei Spezialausbildungen im Partisanenkampf erhalten hatte, konnte auch Barth nicht aufwarten. Einsatztagebücher der Einheit sind nicht vorhanden. Auch der Dortmunder Historiker Ralph Klein fand keinen Beweis, daß Strittmatter an Verbrechen beteiligt war. Er schlußfolgerte aber, daß man Soldaten mit entsprechender Ausbildung auch zur Partisanenbekämpfung eingesetzt und diese in Wirklichkeit in der Ermordung „hilfloser Frauen und Kinder“ bestanden habe.

So wird aus Mutmaßungen und falschen Zuordnungen ein SS-Mann namens Erwin Strittmatter geboren, der nicht nur, wie er selbst eingeräumt hat, „Handlangerdienste für den NS-Staat“ geleistet hatte, sondern an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein muß und sich deswegen nach dem Krieg seinen Lebenslauf zusammenbastelte. Unklar ist dabei noch immer, ob Strittmatter, wie er selbst behauptete, bereits vor dem Zusammenbruch desertiert war.

Die Häme gegen Strittmatter ist nur aus Sicht des westdeutschen Feuilletons zu verstehen. Nachdem sich Literaturnobelpreisträger Günter Grass als ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS zu erkennen gegeben hatte und andere herausragende Schriftsteller in Mitgliederlisten der NSDAP auftauchten, mußte nach dem Künstler Bernhard Heisig (SS-Division Hitlerjugend) endlich ein „weiterer Säulenheiliger der SED-Kultur entblößt“ werden, wie die Welt jubelte. Es ging weniger um Strittmatter, als darum nachzuweisen, daß die angeblich antifaschistische Tradition der DDR eine Lüge war und die „Auseinandersetzung mit der persönlichen Verstrickung von prominenten DDR-Bürgern tabuisiert wurde“.

Immerhin war Strittmatter mehrfacher Träger des Nationalpreises der DDR. Daß er auch von 1958 bis 1964 als Geheimer Informant (GI) bei der Staatssicherheit registriert war, spielte gegenüber den angeblichen Verstrickungen in NS-Verbrechen nur am Rande eine Rolle. Zumal sich offenbar nichts Belastendes in den Stasi-Akten fand. Immerhin, die Ausweisung des Schriftstellerkollegen Reiner Kunze („Die wunderbaren Jahre“) aus der DDR soll er befürwortet haben. Ansonsten lebte der Literat zurückgezogen auf seinem Hof. 1978 notierte Strittmatter in seinem Tagebuch: „Weil in beiden Diktaturen (auch in der zweiten, von der ich etwas erhoffte) nach dem Grundsatz gehandelt wird: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, und wer uns kritisiert, ist ein Abgesandter des Feindes.“

„Der Sinn meines Lebens scheint mir darin zu bestehen, hinter den Sinn meines Lebens zu kommen.“ Der seit 1996 bestehende Erwin-Strittmatter-Verein in Bohsdorf hat diesen Satz des Schriftstellers auf die Startseite seiner Internetpräsentation gestellt. Der Verein wird am 18. August eine Feierstunde halten, und einen Tag später wird es ein Hoffest geben.

Auch das Spremberger Erwin-Strittmatter-Gymnasium setzt sich mit seinem Namenspatron auseinander. „Die derzeit vorgelegten Fakten bezüglich seiner Bewerbung zur Waffen-SS als auch seine bekannte Tätigkeit als GI ‘Dollgow’ erzeugen neue Spannungsfelder in seiner Biographie, die Interpretationen zwischen systemnahem Anerbieten bis systembedingter Anpassung eröffnen“, heißt es auf der Internetseite. Diese biographischen Brüche werten zu können, erfordere eine „intensive Auseinandersetzung mit Strukturen und Wirkungsweisen dieser früheren Diktaturen“. Darin würden die Lehrer die Chance sehen, die Schüler zum historischen Denken und Werten zu animieren.

Die Netzseite des Strittmatter-Gymnasiums ziert ein Spruch des Schriftstellers: „Denk nicht, das Leben käme ohne dich aus. Es ist nicht gewohnt, mit Lücken zu arbeiten. Aber ob du etwas mehr bist, als ein Lückenfüller, liegt an dir. Da ist deine Freiheit.“

Foto: Erwin Strittmatter während einer Lesung im Oktober 1986: Schutzpolizist im NS-Staat und später mehrfacher DDR-Nationalpreisträger

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