© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/12 24. Februar 2012

Eine kleine Welt für sich
Die Gesellschaft der Esten, Letten und Deutschen in den baltischen Provinzen des Russischen Reiches
Detlef Kühn

Wer interessiert sich schon für kleine Völker wie die Esten mit gut einer Million Menschen oder die Letten, bei denen die Muttersprachler auch nur knapp 1,5 Millionen Personen ausmachen? Estnisch, das zur finno-ugrischen Sprachfamilie gehört, gilt als besonders schwierig. Also nur etwas für Spezialisten wie die studierte Finno-Ugristin Ulrike Plath, deren hier vorzustellendes Werk mit seinem sperrigen Untertitel (Fremdheitskonstruktionen, Lebenswelten, Kolonialphantasien) den ersten Eindruck noch zu bestätigen scheint?

In der Tat handelt es sich um ein durchaus gelehrtes Werk – als Band 11 der Veröffentlichungen des Nordost-Instituts herausgegeben – mit einem Quellen- und Literaturverzeichnis von immerhin 66 Seiten. Die Sprache ist auch nicht einfach. Es wimmelt von „Diskursen“ jeder Art. Reisende und Auswanderer heißen „Migranten“. „Kolonialphantasien“ sind durchaus nicht immer phantastisch, sondern einfach nur Vorstellungen vom Zusammenleben von Herren- und Untergebenen-Völkern, die oft sogar der Realität entsprechen. Warum Fremdheit unbedingt „konstruiert“ sein muß, ist nicht immer klar, könnte aber etwas mit politischer Korrektheit zu tun haben.

Dennoch sollte sich niemand, der an osteuropäischer Geschichte und insbesondere am Baltikum interessiert ist, abschrecken lassen. Plaths Werk bringt viele Informationen zur Alltags-, Wirtschafts-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, die die bislang häufig politik-lastige deutschbaltische Geschichtsschreibung wesentlich ergänzen. Dabei kann sie sich auch auf die estnischsprachige Literatur stützen, die der jüngeren deutschbaltischen Historiker-Generation, im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern, im allgemeinen mangels einschlägiger Sprachkenntnisse nicht mehr ohne weiteres zugänglich ist.

Plaths wichtigste Quelle sind die Erinnerungen, Briefe und Aufsätze, die Reisende aller Art, vor allem aber deutsche Akademiker hinterlassen haben, die als „Hofmeister“ (Hauslehrer) im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert ins Land kamen und für die Erziehung der Kinder der seit der „Aufsegelung“ im 13. Jahrhundert herrschenden deutschen Adelsschicht von größter Bedeutung waren. Sie gewährleisteten die geistige Verbindung zum deutschen Mutterland in der Zeit der Reformation oder der Aufklärung. Wenn sie sich in den baltischen Provinzen Liv-, Est- und Kurland heimisch fühlten, lernten sie Estnisch oder Lettisch, übernahmen als Theologen, die sie meist waren, Pfarrstellen und kümmerten sich nicht nur um die geistliche Bildung ihrer Schützlinge, sondern auch um die Entwicklung ihrer bäurischen Sprachen zu modernen Hochsprachen. Andere kehrten nach einigen Jahren des Geldverdienens nach Deutschland zurück und berichteten dort über ihre Erlebnisse und die Verhältnisse in den oft exotisch wirkenden „deutschen“ Provinzen des Russischen Reiches. Damit prägten sie nachhaltig auch die deutschen Vorstellungen vom eigentlichen Rußland.

Natürlich ist die Leibeigenschaft der estnischen und lettischen Bauern und ihre Wahrnehmung durch deutsche Beobachter für Ulrike Plath ein zentrales Thema. Diese wurde erst 1819 in den baltischen Provinzen des Zarenreiches aufgehoben, kam allerdings der Bauernbefreiung im gesamten Russischen Reich (1861) um mehr als vierzig Jahre zuvor. Das besonders heikle Faktum des separaten Verkaufs von leibeigenen Bauern unabhängig von dem Rittergut, auf dem sie ansässig waren, wird nicht verschwiegen, aber doch nicht so eingehend behandelt, wie es angesichts der verbreiteten Praxis notwendig wäre. Ausführlich schildert sie dagegen das Zusammenleben von Menschen, die ganz unterschiedlichen Kulturkreisen angehören, vor allem auf den baltischen Gutshöfen, aber auch in den Kleinstädten, insbesondere in Dorpat. Erstmals widmet sie sich ausführlich bislang stark tabuisierten Themen wie den sexuellen Beziehungen zwischen den „indigenen“ Bauern und Angehörigen der deutschen Oberschicht.

Bei diesem Gegenstand stößt Plath allerdings auch an die Grenzen ihrer weitgehenden Beschränkung auf Erinnerungsliteratur. Erst die Auswertung der Kirchenbücher der ländlichen Kirchspiele Livlands oder der Universitätsstadt Dorpat, die die Autorin nicht vorgenommen hat, ermöglicht erstaunliche Einblicke in die zahlreichen, teilweise langjährigen intimen Beziehungen zwischen deutschen Männern aller Kreise und estnischen (oder auch lettischen) Frauen und ihre „Folgen“. Hier sind deutsch-estnische Nebenfamilien begründet worden, die oft – aber nicht immer – zu einer zahlenmäßigen und kulturellen Verstärkung des baltischen Deutschtums führten.

Ulrike Plath betont zu Recht die Existenz von Grauzonen, in denen die ethnische und ständische Zuordnung von sogenannten Klein-Deutschen, die man häufig wohl als „Halbdeutsche“ kennzeichnen muß, nicht einfach ist. Auf diesem schwierigen Gebiet ist noch vieles zu erforschen, was vor allem eine bislang vernachlässigte Herausforderung für die Familiengeschichtsforschung darstellt. Die erst kürzlich erfolgte Einstellung der Original-Kirchenbücher in die Internet-Portale saaga (für Estland) und raduraksti (für Lettland) durch die Staatsarchive Tartu (Dorpat) und Riga erleichtert diese Forschungen sehr (JF 27/11). Das kluge und materialreiche Buch von Ulrike Plath legt dafür eine gute Grundlage.

Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Rußlands 1750–1850. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2011, gebunden, 360 Seiten, 34 Euro

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