© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Der Gezeitenwechsel
Geschichtspolitik: Mit einem Bundespräsidenten Joachim Gauck verschieben sich die Akzente
Thorsten Hinz

An diesen Auftritt des Grünenpolitikers Jürgen Trittin im ZDF wird man sich noch erinnern: Aufgebracht warf er in der vergangenen Woche der taz in Sachen Joachim Gauck einen „Schweinejournalismus“ vor. Der Vorwurf trifft zu, allerdings hat Trittin von dieser Praxis lange profitiert. Sein Qualitätsurteil kennzeichnet auch die eigene politische Karriere. Die Hauptsache aber ist: Die raffiniert eingefädelte Kandidatur Gaucks für das Amt des Bundespräsidenten ist geeignet, ihren Akteuren auf die Füße zu fallen. Die taz spricht bloß das Naheliegende aus, das dem Politiker Trittin wohl gleichfalls dämmert, das er aber bestreiten muß. Es ist immer amüsant anzuschauen, wenn rot-grüne Krähen sich gegenseitig die Augen aushacken.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Seiner (Gaucks) Freiheitsidee als subjektive Kraft der Selbstbehauptung fehlt der Anschluß an die politische Realität.“ Das ist lächerlich. Vielmehr kann sie einen Weg eröffnen, der zurückführt ins Zentrum des Politischen. Denn gefühlte 99 Prozent der Angehörigen des politisch-medialen Komplexes, der das Land im Würgegriff hält, sind außerstande, das politisch-historische Bedingungsgefüge zu reflektieren, das ihr Handeln bestimmt. So verpackt die FAZ ihre Erwartungen an Gauck in ein Loblied auf den CDU-Mann Klaus Töpfer: Der ehemalige Umweltminister hätte als Präsident die Energiewende begleitet, die Versöhnung von Wirtschaft und Ökologie thematisiert und das Verhältnis zu den Entwicklungsländern in den Blick gerückt. Auch Joachim Gauck müsse seine Themenpalette entsprechend erweitern.

Das sind wichtige, jeweils zu Widerspruch herausfordernde Detailfragen. Doch wie die Dinge heute liegen, muß ein Bundespräsident sich ums Grundsätzliche kümmern: Zum einen hat er das Bürgerinteresse gegen das Selbstinteresse des politisch-medialen Komplexes zu verteidigen, zweitens muß er auf eine veränderte Atmosphäre hinarbeiten, in der es möglich wird, nach innen und außen deutsche Eigeninteressen zu formulieren und zu vertreten. Am Anfang könnte die einfache Feststellung stehen, daß die politische Klasse das Kunststück fertigbekommen hat, unser Volksvermögen faktisch in eine europäische Transferunion zu überführen und gleichzeitig in Europa das Bild vom häßlichen, geizigen, peitschenschwingenden Deutschen wieder auferstehen zu lassen.

Die Frage nach den tieferen Gründen dieser kopflosen Politik führt uns zurück zum Zornausbruch Trittins. Er bezog sich auf den Beitrag des taz-Kolumnisten Deniz Yücel, der Gauck vorgeworfen hatte, „in der Sache (...) eine Verharmlosung des Holocausts“ zu betreiben. Yücel befürchtet offenbar, daß Gauck einen geschichtspolitischen Gezeitenwechsel einleitet und die Holocaust-Fixierung der Deutschen, die sich als Mittel zu ihrer politischen und finanziellen Erpressung bestens bewährt hat, an Wirkung verliert. Die Erpressung findet auf drei Ebenen statt: durch das Ausland gegen Deutschland, durch interne Lobbygruppen gegen den Staat und durch die politische Klasse gegen das eigene Volk.

Gauck hat in der Tat gegen den Gesinnungsfanatismus Position bezogen, indem er in öffentlicher Rede die Sakralisierung, Entweltlichung und Enthistorisierung des Holocaust mit einer Deutlichkeit kritisierte, die auch von der JUNGEN FREIHEIT kaum übertroffen werden könnte. Weiterhin hat er 2008 die „Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“ unterzeichnet, in der osteuropäische Politiker, Historiker und ehemalige politische Gefangene die kommunistischen Verbrechen den nationalsozialistischen zur Seite stellen. Implizit wandte er sich damit gegen das geschichtspolitische Dogma: die Singularität des Holocaust, die faktische Kollektivschuld und die Pflicht zur dauerhaften Sühne, das Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker in seiner 8.-Mai-Rede 1985 im Bundestag dekretiert hatte. Hat Gauck das Zeug zum Gegen-Weizsäcker?

Beide haben biographisch einiges gemeinsam: Beider Eltern waren Mitglied der NSDAP, beide Väter waren Marineoffiziere und wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Opfer der jeweiligen Siegerjustiz. Weizsäckers Vater starb 1951 an einem Schlaganfall, wenige Monate nachdem die Amerikaner ihn aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg entlassen hatten. Gaucks Vater kehrte 1955 nach vierjähriger Haft als gebrochener Mann aus dem sowjetischen Gulag zurück. Beide Söhne sind nachhaltig vom Schicksal ihrer Väter geprägt.

Der Unterschied: Gauck wurde in der DDR zum Antikommunisten und Staatsgegner. Weizsäcker, um in der Bundesrepublik in Amt und Würden zu gelangen, brachte sein Wissen und seine Erfahrungen mit den Siegerintentionen zur Deckung. Bereits am 8. Mai 1970 hatte er im Bundestag für die CDU/CSU eine Rede zum Kriegsende gehalten, die passagenweise in seine Ansprache fünfzehn Jahre später einging. Es fällt auf, daß 1970 jeder Hinweis auf die zentrale Bedeutung des Holocaust für das deutsche Selbstverständnis fehlte – er kommt überhaupt nicht vor. Nicht die historische Sachlage hatte sich inzwischen geändert, wohl aber die Debattenlage und die Machtverhältnisse. Weizsäcker unterwarf sich ihnen.

Damit ist gesagt, daß die deutsche Geschichtspolitik auch in einem knallharten internationalen Kontext stattfindet und nicht durch einen einmaligen Willensakt aufzuheben ist. Allerdings bleibt die „subjektive Kraft der Selbstbehauptung“, die Gauck den politischen Verhältnissen in der DDR entgegensetzte, auch heute das sicherste Mittel, um Realitäten zu widerstehen, in denen sich ein falsches Bewußtsein ausdrückt. Wird Joachim Gauck – längst Mitglied der „Atlantikbrücke“ – willens und in der Lage sein, auf die bewährte Ressource zurückzugreifen und sie unter der Hand in Politik zu verwandeln?

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