© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Karlsruher Ohrfeige
Bundesverfassungsgericht: Das Urteil korrigiert die Bundestags-Selbstentmachtung
Karl Albrecht Schachtschneider

Das Bundesverfassungsgericht hat der Organklage zweier SPD-Abgeordneter gegen das Stabilisierungsmechanismusgesetz stattgegeben. Dies war nach der einstweiligen Anordnung vom 27. Oktober 2011 zu erwarten. Es handelt sich um ein wichtiges, durchaus grundsätzliches Urteil. Die Beteiligungsrechte des Bundestages dürfen auch bei besonderer Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit von dem Sondergremium des 41köpfigen Haushaltsausschusses nur wahrgenommen werden, wenn es um den Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt durch den Rettungsfonds EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) geht.

In dem „kleinstmöglichen“ Unterausschuß sollte jede Fraktion unter Wahrung der Mehrheitsverhältnisse des Bundestages zumindest ein Mitglied benennen können. Bei Notmaßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungsgefahren sei, so das Gericht, die besondere Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit entgegen dem Gesetz nicht zu vermuten und die Bundesregierung könne diese auch rechtens nicht geltend machen. Der Unterausschuß sollte dieser das Parlament oder den Haushaltsausschuß ausschaltenden Annahme unverzüglich mit Mehrheit widersprechen können, aber ohne Kontrolle. Die haushaltspolitische Gesamtverantwortung, insbesondere bei Änderung des Rahmenvertrages des EFSF, sowie im Falle erstmaligen Antrags eines Mitgliedstaates des Euro-Währungsgebietes für eine Notmaßnahme, soll auch nach dem Gesetz, das insofern den Vorgaben des Leiturteils des Bundesverfassungsgerichts zum vorläufigen Rettungsschirm vom 7. September 2011 gefolgt ist, stets der Bundestag wahrnehmen. Das Parlamentsplenum kann zu Recht die Befugnisse des Haushaltsausschusses jederzeit mit einfacher Mehrheit an sich ziehen und ausüben. Die Unterrichtungsrechte des Bundestages sollten in Fällen besonderer Vertraulichkeit auf das Sondergremium beschränkt werden dürfen, solange die Gründe für die besondere Vertraulichkeit bestehen. Diese ebenfalls streitige Regelung des
Paragraphen 5 Absatz 7 des Gesetzes hat das Gericht verfassungskonform präzisiert und damit vor der Nichtigkeit verschont.

Das Urteil korrigiert die Entmachtung des Haushaltsausschusses durch einen Unterausschuß, der eilig, vertraulich und vermutlich willfährig mit der Regierung agiert. Die budgetverfassungsrechtlich gebotene Beteiligung des Bundestages und an sich wegen Artikel 23 Abs. 2 GG auch des Bundesrates vor allem durch Unterrichtung in Angelegenheiten der EU, die Voraussetzung der politisch und rechtlich relevanten Stellungnahmen nach Artikel 23 Absätze 3 und 4 GG ist, hat das Bundesverfassungsgericht selbst im Urteil vom 7. September 2011 relativiert, indem es die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen des Parlaments auf den Haushaltsausschuß zugelassen hat. Das Gericht hat letzteren damit zum Verfassungsorgan gemacht. Jetzt stützt es das mit der Staatspraxis, aber auch mit Hinweis auf andere, schlecht übertragbare, Verfassungsregelungen. In Sachen des Stabilisierungsmechanismus wäre allenfalls der in Artikel 45 GG eingerichtete Europaausschuß in Frage gekommen. Der Haushaltsausschuß hätte vorbereitend beteiligt werden dürfen.

Jeder Abgeordnete muß an den Beratungen und Beschlüssen der Volksvertretung mitwirken können. Das sieht das Gericht in seiner richtigen allgemeinen Parlamentsdogmatik, zumal der des Budgetrechts, nicht anders, gestaltet diese aber im Interesse der Europolitik verfassungsgebend um. Das Plenum dürfe die Durchführung seiner haushaltlichen Rahmenbeschlüsse auf den Haushaltsausschuß und sogar auf dessen Unterausschuß übertragen, wenn die selbstorganisierte Funktionsfähigkeit des Parlaments, gestaltet im Geschäftsordnungsrecht, das, verfassungslegitimiert und aus gewichtigem Grunde, erfordere. Wenn nötig darf also der Exekutivismus den Parlamentarismus verdrängen. Effizienz geht vor Freiheit, die ihre politische Form in der Demokratie hat. Funktionsfähigkeit ist ohne Verfassungstext ein mehr als brüchiges Argument. Zudem müsse der Unterausschuß die Fraktionsstärken widerspiegeln, also vergrößert werden.

Unternehmensartiger Vertraulichkeit hat das Gericht gegen an sich richtig herausgestellte parlamentarische Öffentlichkeit den Vorzug gegeben, wenn und solange Marktintervention Geheimhaltung zu Lasten der Unterrichtung „unabdingbar notwendig“ zu gebieten scheine. Der Bundestag sei nachgängig zu informieren. Befugnisse des Bundestages sind Rechte der Bürger, die nicht an der Politik teilhaben können, wenn sie nicht informiert sind. Es geht um die Vermögen der Bürger, um deren Löhne und Renten, um folgenreiche Maßnahmen. Nicht Arkanpolitik ist demokratisch, sondern Transparenz. Ausschluß der Öffentlichkeit bedarf verfassungsgesetzlich definierter Gründe. Das Gericht erfindet einen neuen: die Lage an den Finanzmärkten. Welche Regierungsmethode ökonomisch effizienter ist, bleibt im übrigen eine Frage.

Wären die Abgeordneten weniger desinformiert, weniger abhängig, weniger fraktioniert und weniger ideologisiert, hätten sie das Euro-Abenteuer gar nicht erst mitgemacht.

 

Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider lehrte öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg.

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