© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

„Bin ich in Deutschland zu Hause?“
Rechtsextremismus: Die Trauerfeier für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle zeigt die Gratwanderung von Staat und Politik bei der Aufarbeitung der Mordserie
Marcus Schmidt

Die Stimmung war fast ausgelassen an diesem regnerischen Februarmorgen. Nach und nach versammelten sich am Donnerstag vergangener Woche führende Bundes- und Landespolitiker im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt, um der Opfer rechtsextremistischer Gewalt zu gedenken.

Doch vor Beginn der Veranstaltung, bevor Schüler Kerzen auf die Bühne trugen, mit denen an die zehn Opfer der Zwickauer Terrorzelle erinnert wurde, vor der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel, in der sie von den wunden Seelen sprach, die diese Mordserie bei den Angehörigen der Opfer hinterlassen habe und von der Schande für das Land, und noch bevor Ismail Yozgat, dessen Sohn 2006 in seinen Armen starb, sich für die Anteilnahme des Staates bedankt hatte und der wütend-anrührenden Rede von Semiya Simsek, deren Vater Enver im Jahr 2000 ermordet wurde, war im Konzerthaus nur wenig von Trauer zu spüren. Und so nahmen neben vielen anderen die Ministerpräsidenten von Niedersachsen und Schleswig-Holstein, David McAllister und Peter-Harry Carstensen (beide CDU), die Bundestagsvizepräsidenten Petra Pau (Linkspartei) und Wolfgang Thierse (SPD) nicht einfach schweigend Platz, sondern nutzten die Wartezeit für muntere Gespräche, während Grünen-Chefin Claudia Roth großzügig ihre unvermeidlichen Umarmungen und Küßchen verteilte. Als Joachim Gauck von der Seite her den Saal betrat, kam er nur langsam voran, weil der frisch gekürte Präsidentschaftskandidat lächelnd Hände schütteln und Glückwünsche entgegennehmen mußte.

Es waren solche Details, die die Gratwanderung dieser Gedenkstunde, an die sich deutschlandweit eine von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden initiierte Schweigeminute anschloß, verdeutlichten. Die Trauerfeier galt nicht einem wenige Wochen zurückliegenden Verbrechen, sondern einer Mordserie, deren erstes Opfer bereits vor bald elf-einhalb Jahren, im September 2000, ums Leben gekommen war und deren vermutlich letztes Opfer vor knapp fünf Jahren erschossen wurde. Und so traf die Gedenkveranstaltung trotz aller
medialer Aufmerksamkeit und öffentlich bekundeter Anteilnahme nicht auf ein trauerndes Land. Vielleicht wirkte es aus diesem Grund so, als sei die Teilnahme für viele Politiker nur ein Termin unter anderen. Und vielleicht nahmen manche nur teil, weil im Vorfeld Stimmen laut geworden waren, die das Ausbleiben von Lichterketten und anderen Betroffenheitsbekundungen beklagt hatten.

Die Feier selbst war ganz den Opfern gewidmet, und so wurden die Namen der mutmaßlichen Täter nicht genannt, wurde der Ermittlungsstand, der nach wie vor viele Fragen nach Tathergang und Motiven für den Mord an neun türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern und einer Polizistin unbeantwortet läßt, nicht thematisiert.

Denn trotz aller Indizien stecken die Ermittler immer noch mitten in der Auswertung der zahllosen Hinweise.

Die Trauer der Angehörigen um ihre toten Väter, Geschwister und Kinder hingegen bleibt davon unberührt. Daher geriet das Ende der Trauerfeier, als Ismail Yozgat und Semiya Simsek, die zu Beginn gemeinsam mit Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU), Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und Merkel durch den Mittelgang in das Konzerthaus gekommen waren, das Wort ergriffen, am eindruckvollsten. „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“, sagte Simsek, die in diesen Jahren vom Mädchen zur jungen Frau geworden ist. „Immer lag da die Last über unserem Leben, daß vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch den anderen Verdacht gab es noch: Mein Vater ein Krimineller, ein Drogenhändler“, kritisierte sie die Ermittlungen im Umfeld der Opfer.

Während im Vorfeld der Trauerveranstaltung türkische Interessenvertreter politische Forderungen aus den Verbrechen ableiteten, wie etwa Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, der am Tag der Gedenkfeier im Neuen Deutschland eine „eindeutige Strategie gegen Rechts“ forderte und das Aufenthalts- und Staatsangehörigkeitsrecht anprangerte – im Konzerthaus fehlten Schuldzuweisungen. Stattdessen beteuerte Yozgat auf türkisch, er habe großes Vertrauen in die deutsche Justiz, und Simsek zog auf deutsch ihre ganz eigenen Schlüsse: „Heute stehe ich hier, trauere nicht nur um meinen Vater und quäle mich auch mit der Frage: Bin ich in Deutschland zu Hause?“ Sie gab sich selbst eine eindeutige Antwort: „Ja klar bin ich das.“ Doch verhehlte sie nicht, daß der Mord an ihrem Vater diese Gewißheit erschüttert habe.

Am Ende verließen die rund 1.200 Teilnehmer das Konzerthaus und gingen über den hermetisch abgeriegelten menschenleeren Gendarmenmarkt zu den wartenden Limousinen oder eilten zu den nahen U-Bahn-Stationen. Die Berliner U-Bahnen hielten bald darauf, um 12 Uhr, eine Minute länger als sonst an ihrem jeweiligen Bahnhof. Doch diese Schweigeminute nahmen die meisten Fahrgäste kaum wahr.

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