© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Wider die Hierarchie der Opfer
Präsidentschaftskandidat: Joachim Gauck ruft mit seinen geschichtspolitischen Thesen hysterische Reaktionen hervor
Erik Lehnert

Solange klar war, daß Joachim Gauck keine Chance haben würde, jemals Bundespräsident zu werden, fand er nahezu einhellige Zustimmung. Davon ausgenommen waren lediglich die Anhänger der Linkspartei, die sich von der Welle der Sympathie nicht täuschen ließen. Ihnen war klar, daß Gauck ihre Klientel nicht repräsentieren würde. Die anderslautende Einschätzung von SPD und Grünen war schon damals rein strategischer Natur. Mit Gauck konnte man der Regierungskoalition maximal schaden, ohne selbst irgendwelche Einbußen zu fürchten. Es stand ja fest, daß es Gauck nicht werden würde. Insofern mußte man sich über dessen Standort keine allzu großen Gedanken machen. Das ist jetzt anders. Während sich eine breite Mehrheit in ihrer instinktiven Ablehnung des gesichtslosen Parteigewächses Christian Wulff bestätigt sieht und in Gauck einfach die Distanz zum Politbetrieb schätzt, macht sich links ein mulmiges Gefühl breit. War Gauck wirklich eine gute Idee?

Während sich die alten Kader der Linkspartei eher am dezidierten Antikommunismus Gaucks stören, ist die westdeutsche Linke bereits einen Schritt weiter und bringt das Geschütz mit der größten Reichweite in Stellung: den Holocaust. Gauck soll ihn verharmlosen. Im Zentrum steht dabei eine Bemerkung, die er im März 2006 in seinem Vortrag „Welche Erinnerungen braucht Europa?“ bei der Bosch-Stiftung machte: „Unübersehbar gibt es eine Tendenz der Entweltlichung des Holocausts. Das geschieht dann, wenn das Geschehen des deutschen Judenmordes in eine Einzigartigkeit überhöht wird, die letztlich dem Verstehen und der Analyse entzogen ist. Offensichtlich suchen bestimmte Milieus postreligiöser Gesellschaften nach der Dimension der Absolutheit, nach dem Element des Erschauerns vor dem Unsagbaren. Da dem Nichtreligiösen das Summum bonum – Gott – fehlt, tritt an dessen Stelle das absolute Böse, das den Betrachter erschauern läßt. Das ist paradoxerweise ein psychischer Gewinn, der zudem noch einen weiteren Vorteil hat: Wer das Koordinatensystem religiöser Sinngebung verloren hat und unter einer gewissen Orientierungslosigkeit der Moderne leidet, der gewinnt mit der Orientierung auf den Holocaust so etwas wie einen negativen Tiefpunkt, auf dem – so die unbewußte Hoffnung – so etwas wie ein Koordinatensystem errichtet werden kann. Das aber wirkt ‘tröstlich’ angesichts einer verstörend ungeordneten Moderne.“

Diese Stelle blieb damals unbeachtet, nicht zuletzt deshalb, weil es 2006 keinen Grund gab, Gauck zu denunzieren. Er strebte kein Amt an und war aus keinem zu vertreiben. Jetzt allerdings braucht man Munition und zunächst mal einen, der sie scharf macht. Diese Rolle hat der taz-Redakteur Deniz Yücel übernommen. Zunächst war die Kritik an der Überhöhung des Holocaust nur einer unter vielen Punkten, die er auf Gaucks Schuldkonto glaubte verbuchen zu können. Als ihm andere Blogger dann unsauberes Zitieren vorwarfen, verschärfte er die Gangart. Für Yücel steht fest, daß Gauck mit seiner Bemerkung die antisemitische Grundhaltung der Deutschen ansprechen will und ganz bewußt im Ungefähren bleibt: „Weil er genau diese, in Deutschland so beliebte Form des Tabubruchs bedienen will: das Prinzip des schmierig-verklemmten dirty talks.“ Die antisemitischen Deutschen und Gauck verstehen sich demnach auch ohne Worte. Daß dieser Vorwurf argumentativ nicht zu belegen ist, muß Yücel kein Kopfzerbrechen bereiten. Im Gegenteil: Der alte Grundsatz „in dubio pro reo“ ist in geschichtspolitischen Debatten schon längst nicht mehr gültig. Wer der „Verharmlosung des Holocaust“ angeklagt ist, kann diesen Makel nur durch gelebte Selbstkritik wieder loswerden – wenn überhaupt.

Bei Gauck kommt noch dazu, daß er auf die Gefahr hinweist, die in der Überhöhung des Holocaust zu einer Ersatzreligion liegt. Damit hat sich Gauck, so Yücel, als Antisemit geoutet: „Dabei ist die Rede von der ‘Ersatzreligion Auschwitz’ weder sonderlich deutsch noch sonderlich klerikal. Immer aber ist sie, ob im Munde eines Neuen Rechten, Linken oder sonstwem, Ausdruck eines Antisemitismus, der nicht trotz, sondern wegen Auschwitz argumentiert. Oft in Form des an Juden oder Israelis gerichteten Vorwurfs, aus Auschwitz Profit zu schlagen; bei Gauck als unterstellter ‘psychischer Gewinn’.“ Selbst die kurze, oben zitierte Stelle aus dem Vortrag Gaucks macht deutlich, daß es ihm um etwas anderes geht. Der „psychische Gewinn“ ist die Entlastung, die darin besteht, sich auch über seine Schuld definieren zu können. Dieses Phänomen, das mehrfach als „Schuldstolz“ bezeichnet wurde, ist nichts anderes als die „Erbauung an der Sünde“ (Karl Jaspers). Daß aus der Fixierung auf das Böse nichts Gutes erwachsen kann, ist ein Gemeinplatz, der nur im Fall des Holocaust keine Geltung haben soll.

Warum Yücel trotzdem so argumentiert, wird an seinem letztem Punkt deutlich: „Aber indem er von einer ‘Überhöhung’ des Holocausts zu einem quasireligiösen Akt spricht, spricht er der Shoah die Singularität als ebenso wahnhaften wie systematischen Massenmord an Millionen Juden ab.“ Hier liegt Yücels Problem: Wer die Singularität des Holocaust nicht anerkennt, ist Antisemit. Einmal davon abgesehen, daß „historische Singularität“ eine Nonsenskategorie ist, die für alles oder nichts gilt, verblüfft die Blindheit, mit der Yücel in seine selbstgebaute Falle tappt. Wenn es noch eines Beleges bedurfte, daß der Holocaust zu einer Ersatzreligion entweltlicht wurde, so liefert Yüzel ihn unfreiwillig selbst. Singularität ist eine religiöse Zuschreibung und jeder, der an ihr zweifelt, wird bestraft. Nicht weil er die Argumente nicht verstanden hätte, sondern weil er nicht daran glaubt.

Gauck kann als ehemaliger DDR-Bewohner über das hinweggehen, was mit dem Historikerstreit von 1986 quasi geschichtspolitisches Allgemeingut geworden ist, indem er kritisch feststellt: „Für manchen Betrachter bedeutet schon der Vergleich der beiden Terrorsysteme, des Nationalsozialismus und des Kommunismus, eine Relativierung des ersteren.“ Wegen dieses Reflexes blieben „Millionen von Opfern kommunistischer Gewalt ungenannt und weitgehend unbetrauert“, so Gauck in seiner Rede vor der Bosch-Stiftung. Für ihn „verbietet sich die Konkurrenz zwischen verschiedenen Übeln und Opfern“, im übrigen lehre ja gerade das Vergleichen zu unterscheiden. Notwendig sei die „doppelte Erinnerung“, die den Opfern sowohl des Nationalsozialismus wie des Kommunismus gerecht werde (siehe nebenstehendes Interview).

Weil Differenzierung die ganze Anklage in sich zusammenbrechen lassen würde, blendet Yücel den Kontext der Argumentation von Gauck aus. Dieser bezieht sich in seiner Rede ausdrücklich auf den Soziologen Zygmunt Bauman, dem er seine „gewandelte Sicht des Holocaust“ verdanke. In dieser Referenz verbirgt sich die viel grundlegendere Unkorrektheit, daß der Mensch nicht gut ist, sondern eben immer in der Lage und nicht selten auch willens ist, seinen Mitmenschen umzubringen, einzeln oder eben massenhaft.

Der Holocaust ist für Bauman daher das „Laboratorium der modernen Zivilisation, in dem sich bestimmte Eigenschaften in Reinkultur zeigen, die im normalen Leben nur unscharf auftreten“. Die „Exotisierung des Holocaust“ auf Deutschland lehnt er ab. Insofern entspinnt sich an der Frage der Singularität des Holocaust eine ganz andere, wichtigere Frage nach der Ambivalenz des Fortschritts, der laut Gauck eben nicht nur positive Folgen hat: „Es ist eine verstörende Wahrheit, daß das, was Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte und Gewaltenteilung fördert, gleichzeitig auch eine Steigerung der Rolle der Rationalität mit sich bringt, wobei Rationalität in diesem Zusammenhang die Rationalität derer ist, die ihre antihumanen Ziele definieren und sie perfekt und zweckorientiert zu erreichen wissen.“ Es ist auch diese Differenzierung, die man Gauck übelnimmt. Sie zeigt ihn als einen Menschen, der sich den Blick auf die Wirklichkeit nicht durch Ideologeme trüben läßt.

Die Rede „Welche Erinnerungen braucht Europa?“ wurde von Joachim Gauck am 28. März 2006 in Stuttgart vor der Robert-BoschStiftung gehalten.

www.bosch-stiftung.de

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