© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

„Setzen Sie sich lieber einen Helm auf“
Interview: In Ungarn erho­fft man sich von Joachim Gauck vor allem mehr Sensibilität
Henning Hoffgaard

Herr Tallai, was erwarten Sie von einem Bundespräsidenten Joachim Gauck?

Tallai: Joachim Gauck ist ein guter Mann, den man in Ungarn hoch schätzt. Seine persönlichen Erfahrungen sind wichtig für Deutschland. Europa wird nur zusammenwachsen können, wenn der Erfahrungsschatz des östlichen Teils mit den totalitären Systemen in ganz Europa Gehör findet. Mit ihm kommt dabei sicher auch eine wohltuende Sensibilität ins Spiel.

Sie behandeln in Ihrem Museum den Nationalsozialismus und den Kommunismus gleichberechtigt. Warum?

Tallai: Schon die Frage ist für einen Osteuropäer schwer zu verstehen. Wie könnte man es anders machen? Unsere Region ist von der Erfahrung zweier aufeinanderfolgender totalitärer Regime geprägt. Der Nationalsozialismus wütete hierzulande einige Monate nach der Besetzung durch Deutschland, der internationale Sozialismus wiederum von 1945 bis zum Systemwandel 1989. Beide besaßen ein gnadenloses Feindbild: Der eine verfolgte und ermordete den ausgewählten Rassenfeind, der andere den gehaßten Klassenfeind.

Ärgert es Sie, daß in Westeuropa die kommunistischen Verbrechen in Osteuropa kaum Beachtung finden?

Tallai: Es tut weh, daß ein wesentlicher Teil Deutschlands sein Herz vor den Leidensgeschichten des Kommunismus verschließt. Der Erfolg linksextremer Bewegungen ist sicher auch auf dieses Phänomen zurückzuführen. Man sagt in Ungarn, nur derjenige ist ein Kommunist, der ihn nie erlebt hat. Die Zeit bringt aber Hoffnung. Junge Generationen begnügen sich auch in Ungarn nicht mehr mit herzlosen Halbwahrheiten.

Wie reagieren Sie auf Kritik, eine gleichzeitige Darstellung beider Verbrechen verharmlose den Holocaust?

Tallai: Die Singularität des Holocaust führt zu einem grotesken moralischen Problem. Wenn die Geschichte und Opfer des Holocaust einzigartig sind, so spechen wir im Grunde von Opfern ersten und zweiten Ranges. Ist ein ungarischer Mitbürger durch die Nazis getötet worden, gehört er zur ersten Gruppe. Hat er das bittere Ende im kommunistischen Gulag gefunden, ist er ein zweitrangiger Toter. Einfach absurd! Schon die Fragestellung weist auf etwas Krankhaftes. Nun stellen Sie sich vor, es gab nicht wenige unserer ungarischen Mitbürger jüdischer Herrkunft, die dem Tod in Auschwitz entkamen, aber kurz nach ihrer Heimkehr von den Sowjets nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert wurden. Sollten Sie diese Frage einem der wenigen Überlebenden stellen, setzen sich lieber einen Helm auf!

 

Gábor Tallai ist leitender Programmdirektor des Museums „Haus des Terrors“ in Budapest.

 

Haus des Terrors

Das 2002 eröffnete „Haus des Terrors“ gilt als einer der wichtigsten Anlaufpunkte für Historiker, die sich mit der Geschichte des Holocaust und des Kommunismus in Ungarn und Osteuropas beschäftigen. Das von der konservativen „Stiftung zur Erforschung der mittel- und osteuropäischen Geschichte und Gesellschaften“ getragenen Museum beherbergt auf drei Stockwerken zahlreiche Exponate und Bilder, die sowohl die Verbrechen der Nationalsozialisten als auch der Kommunisten dokumentieren. So waren nach 1945 mehr als 700.000 Ungarn in Viehwaggons für Zwangsarbeiten in sowjetische Arbeitslager deportiert worden. 300.000 kamen dabei ums Leben. Am Tag der Eröffnung gedachten mehr als 100.000 Menschen vor dem Gebäude den Opfern der beiden Diktaturen. www.terrorhaza.hu

 

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