© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Ermächtigungsgesetz durch die Hintertür
Euro-Krise: Der Bundestag wird durch eine tückische Klausel beim Rettungsfonds ESM ausgetrickst / Haushaltsrecht wird zerstört
Wolfgang Philipp

Die bislang bereitgestellten Milliardenpakete für die sogenannte Euro-Rettung reichen bekanntlich nicht. Deshalb hat der Europäische Rat der EU-Staats- und Regierungschefs Ende Januar beschlossen, den Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) nicht erst im Juli 2013, sondern schon Mitte 2012 in Kraft treten zu lassen (JF 6/12). Inzwischen liegt eine aktualisierte „inoffizielle Arbeitsübersetzung“ vor, mit der sich der Staatsbürger begnügen muß.

Der Zeitplan wird nicht eingehalten werden können, denn die Rechtsgrundlage für den ESM muß durch Änderung von Artikel 136 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU) erst geschaffen werden. Hierzu hat der Europäische Rat bereits am 25. März 2011 beschlossen, an Artikel 136 AEU folgendes anzufügen: „Die Mitgliedsstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“

Bisher ist nicht zu erkennen, daß in den hier zuständigen 27 Staaten (an Änderungen des Lissabon-Vertrages müssen auch die zehn Nicht-Euro-Staaten der EU mitwirken) die Parlamente mit der Ratifizierung dieser Vertragsänderung befaßt werden. Gleichwohl ist eine inhaltliche Befassung mit dem Vertragstext dringend schon jetzt erforderlich. Besonders eine in der Öffentlichkeit bisher noch nicht bewußt wahrgenommene, besonders gefährlichen Klausel verdient eine größere Aufmerksamkeit: Nach Artikel 8 des ESM-Vertragsentwurfes beträgt das „genehmigte Stammkapital“ der zu gründenden „Internationalen Finanzinstitution“ 700 Milliarden Euro. Es ist eingeteilt in „eingezahlte Anteile“ und „abrufbare Anteile“.

Der anfängliche Gesamtnennwert der „eingezahlten Anteile“ beläuft sich auf 80 Milliarden Euro. Diese Anteile werden „zum Nennwert ausgewiesen“. Sodann heißt es aber in Artikel 8 Absatz 2 Satz 3: „Andere Anteile werden zum Nennwert ausgegeben, sofern der Gouverneursrat nicht unter besonderen Umständen eine anderweitige Ausgabe beschließt.“ Auch in Artikel 5 Absatz 6a heißt es zu diesem Punkt, der Gouverneursrat beschließe „im gegenseitigen Einvernehmen“ über die „Auflage neuer Anteile zu anderen Konditionen als zum Nennwert nach Maßgabe des Artikel 8 Absatz 2“.

Bisher ist der Öffentlichkeit und dem Bundestag der Eindruck vermittelt worden, der ohnehin schon schwindelerregende Betrag von 700 Milliarden Euro sei die Obergrenze, bis zu welcher nach Maßgabe des „Beteiligungsschlüssels“ die Mitgliedsstaaten insgesamt vom ESM für Einzahlungen in Anspruch genommen werden könnten.

Für Deutschland beträgt diese Höchstzahl rund 190 Milliarden Euro (etwa 27 Prozent). Wenn der Bundestag dem zustimmen sollte, hätte er also schon nach den Nennwerten der Anteile für ein Volumen von rund 190 Milliarden Euro das Heft aus der Hand gegeben. Dazu kommt noch eine Haftung aus dem EFSF-Vertrag (erster sogenannter Euro-Rettungsfonds, JF 48/10) inklusive Zinsen und Ausfallbürgschaften für andere „Vereinsbrüder“ bis zu 400 Milliarden Euro.

Ob, wann und in welcher Höhe die Einzelbeträge eingezogen werden, entscheidet allein der Gouverneursrat, der aus den Finanzministern der Mitgliedsstaaten besteht, also einer politischen Exekutive. Wie die einzelnen Staaten einer solchen Entscheidung nachkommen sollen, ist gänzlich offen. Sie haben allesamt das Geld für diese „Einlage“ nicht, sondern müssen es am Kapitalmarkt aufnehmen und entsprechende Haushaltsnachträge ihrer Parlamente verabschieden.

Die zitierten Klauseln haben den klassischen Charakter eines „Ermächtigungsgesetzes“. Wenn der Gouverneursrat aber noch darüber hinaus durch den ESM-Vertrag befugt wird, die ausstehenden Anteile nicht zum Nennwert, sondern zu „anderen Konditionen“ auszugeben, kann das nur heißen, daß er im Wege einer „Über-Pari-Emission“ zusätzlich ein Aufgeld (Agio) verlangen kann, ohne daß die Parlamente eingeschaltet werden.

Ein Aufgeld ist im Aktienrecht eine häufige Erscheinung, im Aktiengesetz genau geregelt und in der Bilanz als „Kapitalrücklage“ neben dem Grundkapital auszuweisen. Unter dem Nennwert dürfen Aktien nach deutschem Aktienrecht nicht ausgegeben werden (Verbot der Unter-Pari-Emission), ein Gedanke, der sicherlich auch für den ESM gelten sollte. Es kommt also als Abweichung vom Nennwert nur die Ausgabe mit Agio in Betracht.Die Entscheidung darüber darf unter keinen Umständen dem Gouverneursrat überlassen werden, weil dieser sonst das autonome Recht hätte, die Gesellschafterstaaten ohne irgendeine Grenze nach oben über ihre förmliche Einlageverpflichtung hinaus in Anspruch zu nehmen und damit ihre Haushaltsrechte zu zerstören. Gegen diesen Effekt hilft auch nicht die Klausel in Artikel 8 Absatz 5, wo es heißt, die Haftung eines jeden ESM-Mitglieds bleibe „unter allen Umständen auf seinen Anteil am genehmigten Kapital zum Ausgabekurs begrenzt“.

Der Begriff „Ausgabekurs“ (statt „Nennwert“) zeigt, daß umgekehrt eine Politik, die Parlamente über Aufgelder beim Einzug der Anteile um ihr Mitspracherecht zu bringen, beabsichtigt ist, möglichst ohne daß sie es merken. Hoffentlich ist der Rechtsausschuß des Bundestages in der Lage, alle diese Fallen und Gemeinheiten aufzudecken. Darüber hinaus wäre es gegebenenfalls dringend geboten, Verfassungsbeschwerde einzulegen.

Der Bundestag ist vor dieser Falle, die ihn letztlich selbst überflüssig macht, zu warnen. Nur durch Streichen dieser Klausel kann er noch zur Rettung demokratischer Funktionen in Deutschland beitragen, die im übrigen aber auch durch andere Klauseln des Vertrages gefährdet sind.

ESM-Vertragsentwurf (inoffizielle Arbeitsübersetzung vom 23. Januar 2012: www.eurodemostuttgart.files.wordpress.com

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