© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Der Euro treibt die Europäer auseinander
In Einheit entzweit
Gerd Schultze-Rhonhof

Der Euro ist nicht zuerst eine finanztechnische Fehlkonstruktion, sondern im Ursprung eine volkswirtschaftliche. Nun stellt er sich auch noch als eine außenpolitische Fehlleistung heraus. Vor Einführung des Euro haben 150 deutsche Wirtschaftswissenschaftler in einem Aufruf darauf hingewiesen, daß die Eigenständigkeit der nationalen Währungen den Mechanismus dafür bietet, schwache Volkswirtschaften konkurrenzfähig am Markt zu halten. Die Vorhersage dieser Fachleute, daß die wirtschaftlich schwächeren Nationen Europas durch eine Gemeinschaftswährung in den Konkurs getrieben würden, hat sich real bereits erfüllt, wenn auch noch nicht nominal.

Die Niedrigzinsen, die diesen Ländern mit der Euro-Einführung bis zur Weltwirtschaftskrise 2008 zur Verfügung standen, haben sie verführt, exorbitante Schulden anzuhäufen. So hat der Euro in wirtschaftsschwachen Ländern für ein paar Jahre Wohlstand auf Pump entstehen lassen.

Die Befürworter des Euro haben aber einst behauptet, die Gemeinschaftswährung würde den Wohlstand in allen Euro-Ländern mehren. Sie verschweigen heute, daß es gerade der Euro gewesen ist, der in Spanien, Griechenland und anderen Schwachwirtschaftsländern zur Ausbreitung von Massenarbeitslosigkeit und Armut geführt hat. Heute wird dasselbe Argument wieder angeführt, um den Völkern Europas eine Machterweiterung der Institutionen der EU zu verkaufen.

Zum Entsetzen vieler Deutscher ist die bislang immer enger und herzlicher gewordene Freundschaft der Völker Europas mittlerweile schwer belastet. Die Illusion der Deutschen, mit Geld ließen sich alte Gräben zuschütten oder gar Sympathien kaufen, hat sich nicht erfüllt. Die jahrzehntelangen deutschen Nettozahlungen in die schwachen Staaten haben bei vielen Euro-Staaten statt dessen eine Anspruchshaltung wachsen lassen, die inzwischen wie ein einklagbares Recht auf deutsches Geld wirkt.

Die nicht erfüllten Erwartungen auf immer neue Bürgschaften und Kredite für die Schwachwirtschaftsländer der Union haben infolgedessen viel von den zuvor gewachsenen Völkerfreundschaften wieder abgetragen. Der Schub, den die Gemeinschaftswährung der EU verleihen sollte, ist nach hinten losgegangen. Es ist dabei ein Segen, daß wenigstens Frankreich und Deutschland in der Krise aufeinander zugegangen sind.

Das Gerede deutscher Politiker, daß Deutschland der größte Nutznießer des Euro sei und ihn deshalb zum eigenen Nutzen stützen müsse, bestärkt die Stimmungen im Ausland. Die so reden, verschweigen, daß nicht bezahlte Außenstände für exportierte Waren so lange kein „Nutzen“ sind, wie sie nicht mit importierten Waren oder Dienstleistungen „bezahlt“ worden sind. Die so reden, verschweigen auch, daß das unkalkulierbare Verlustrisiko der hypergroßen ESM- und EFSF-Bürgschaften den Vorteil eines Tages in sein Gegenteil verkehren kann.

Hinzu kommt der Schaden, den der Euro mittlerweile für die Demokratie in Deutschland mit sich bringt. Die Einführung des Euro, die Bereitstellung der Euro-Rettungsschirme und die Konstruktion des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sind sämtlich gegen den durchaus erkennbaren Willen eines großen Teils der deutschen Bevölkerung beschlossen worden.

Mit jeder neuen Stufe in diesem Euro-Schulden-Poker wird eine vorherige Zusage gebrochen. Schneller und sicherer kann man das Vertrauen der Wähler in ihre Abgeordneten und in das Parlament als Ganzes nicht zerstören. Die deutschen Parteien – außer den extrem linken und extrem rechten – folgen hier ihren eigenen Vorstellungen vom Europa-Überstaat und nicht mehr dem Wählerwillen. Das jetzt laufende Euro-Desaster legt offen, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestags in ihrer Mehrzahl zuerst Parteifunktionäre sind und kaum noch Vertreter ihrer Wähler. Derzeit ist die „Demokratie“ in Deutschland in dieser Frage eine Farce.

Auch wenn der Deutsche Bundestag noch über die Einzelposten im nationalen Haushalt beraten und entscheiden darf, so ist ihm doch mit den Brüsseler ESM-Entscheidungen das Recht entzogen worden, über weitere Milliarden-Zahlungen für den ESM mitzuentscheiden. Das Budgetrecht des Deutschen Bundestages und das Verfügungsrecht der Deutschen über ihr nationales Vermögen sind dadurch ganz wesentlich beschnitten.

Der Euro könnte die Europäische Union zur Gänze ins Wanken bringen. Die unheilvolle Ankündigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, daß ein Ende des Euro das Ende Europas bedeute, wird hoffentlich nicht in Erfüllung gehen. Ihr so konstruiertes Junktim ist schon an sich ein böses Menetekel für die Zukunft der Union.

Man muß sich bei dieser Aussage auch fragen, ob denn die EU vor dem Euro nicht als Klammer der Völker in Europa taugte oder ob die „Wertegemeinschaft Europa“ gar nur eine euphemistisch „sogenannte“ war. Hing denn die „Wertegemeinschaft“ in Wirklichkeit nur von den Nettozahlungen der Niederländer, der Franzosen und der Deutschen und den laufenden Geldtransfers an die Polen, die Iren und die Griechen ab?

Der von Jean-Claude Juncker, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy beim EU-Gipfel im Dezember 2011 eingebrachte Vorschlag, die EU durch eine Vertragsänderung in eine „Wirtschafts- und Fiskalunion“ umzuwandeln, ist noch auf der Konferenz gescheitert. Eine Reihe anderer Staaten wollten ihre Souveränität in Finanz- und Wirtschaftsangelegenheiten nicht an die EU-Kommission abtreten. Merkels vorherige Einlassung, man müsse die Schuldenkrise als Chance begreifen, „den supranationalen Organen wie der EU-Kommission und dem EU-Gerichtshof noch mehr Machtbefugnisse anzutragen“, war noch nicht vergessen.

Eine europäische Finanz- und Wirtschaftsregierung hätte die deutsche Wirtschaftsvorherrschaft im Euro-Raum zementiert und dies den anderen Völkern vor Augen geführt. Diese Wirtschaftshegemonie in Kontinentaleuropa hat bereits zweimal einen Weltkrieg mit verursacht. Man sollte um des Friedens willen den Völkern und Staaten in Europa ihre Souveränität in Finanz- und Wirtschaftsfragen lassen. Es ist ja auch ihre Souveränität im jeweils eigenen Sozial- und Bildungswesen und ihr Recht auf eine eigene Lebensweise.

Merkel wollte mit ihrer Drohung, die EU würde ohne Euro-Rettungsschirme untergehen, offensichtlich ein ganz anderes Ziel verfolgen. Sie möchte eine europäische Wirtschafts- und Finanzregierung in Brüssel etablieren. Sie versucht damit, den Nationalstaaten ein elementares Souveränitätsrecht zu entwinden und es auf die EU-Kommission zu übertragen. Sie will den nächsten Schritt zur „Überwindung“ des deutschen Nationalstaats hin zu einem „Bundesstaat Europa“ gehen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble wollen Deutschland in Europa auflösen, wie ein Stück Zucker im Tee. Diese Selbstaufgabe entspringt den verstümmelten Geschichtskenntnissen unserer politischen Elite und ihrem daher rührenden Komplex von der Alleinschuld des deutschen Nationalstaats am Zweiten Weltkrieg, den das nationalsozialistische Regime im Namen Deutschlands sicher heraufbeschworen, aber nicht allein verursacht hat. Mit gleicher Logik müßten auch die anderen verursachenden Staaten auf ihre Nationalstaatlichkeit verzichten wollen. Das ist nicht der Fall.

Die erwähnte Selbstaufgabe hat die westdeutsche politische Elite schon einmal in die falsche Richtung laufen lassen. Fast alle westdeutschen Spitzenpolitiker in den 1980er Jahren haben sich mit antinationalstaatlichen Argumenten gegen die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR ausgesprochen, zum Teil sogar mit grotesk antideutschen Formulierungen.

Politiker und Medien sollten das nationale Identitätsgefühl der Deutschen nicht unterschätzen, so wie sie es vor der Wiedervereinigung getan haben. Die Deutschen wollen in ihrer Mehrheit nicht Mitglieder eines europäischen Einheitsstaates sein. Auch wenn die politische Elite in Berlin die deutschstämmige Bevölkerung von ihrem Deutschtum lösen und ihr ein europäisches Bewußtsein angewöhnen will, wird ihnen das so wenig gelingen wie es den Moskauer Politikern einst gelungen ist, aus Esten, Russen und Kasachen Sowjetmenschen zu machen.

Politiker in Berlin und Brüssel, die sich vorgenommen haben, einen Bundesstaat Europa durch die Euro-Krisen-Hintertür zu schaffen, werden dereinst sehen, daß sich weder Italiener noch Iren von Brüssel regieren oder von einer „Achse Berlin-Paris“ bevormunden lassen wollen, und daß weder Finnen noch Österreicher oder Deutsche ihren Wohlstand für eine Einbahn-Solidarität mit Völkern von anderer Lebensart und Mentalität opfern wollen.

Ein Europa, in dem die einen die anderen dominieren und dafür die anderen die einen auf Dauer mit ungezählten Milliarden mitfinanzieren müssen, wird in Mißstimmung – wenn nicht gar in Feindschaft – auseinandergehen. Es gibt kein allen Völkern Europas gemeinsames Europa-Gefühl, das eine fremdsprachige Zentralgewalt und die Lasten einer Transferunion auf Dauer tragen würde.

Da ist ein Blick auf unsere europäischen Nachbarn von Interesse. Seit zwei Jahrzehnten versuchen sie, unsere mit einem Europa-Fundamentalismus verbundene Selbstaufgabe auszubremsen. Der frühere Vizepräsident der EU-Kommission Leon Brittan beruhigte andere EU-Mitglieder 1996 noch mit der Erklärung: „Der deutsche Bundeskanzler Kohl hat uns zugesagt, daß er keine Vereinigten Staaten von Europa anstrebt.“ Selbst der damalige Präsident der EU-Kommission Jacques Delors distanzierte sich 1999 von den Vereinigten Staaten von Europa: „Ich glaube, ein europäischer Superstaat ist weder möglich noch erstrebenswert.“

Wenn man das liest, wird man gewahr, daß die Deutschen mit ihrem Mangel an Patriotismus nicht zu ihren europäischen Nachbarn passen. Der offensichtlich einzige deutsche Spitzenpolitiker der letzten Jahre, der das begriffen hatte, war Bundespräsident Johannes Rau. Er sagte im Nachgang zur Konferenz von Nizza in einer Rede, die Deutschen sollten auf die Wünsche ihrer Nachbarn hören und keinen europäischen Bundesstaat anstreben. Genau auf diesen Bundesstaat zielen aber Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Sie haben versucht, die Krise der Gemeinschaftswährung für einen weiteren Ausbau der EU-Kommission zu einer gesamteuropäischen Staatsgewalt zu nutzen und die EU in einen Bundesstaat umzuwandeln.

Europa war vor der Einführung des Euro auf einem guten Weg dazu, ein Raum befreundeter Völker in einem gut vernetzten Rechts-, Kultur- und Wirtschaftsraum zu werden. Wir Europäer sollten uns mit der Vision des weisen französischen Generals und Staatspräsidenten de Gaulle zufriedengeben, der ein „Europa der Vaterländer“ vorschlug. Ein Europa der Vernetzung, der Anpassung und des Binnenmarktes wird auf Dauer friedlicher und lebensfähiger sein als eines, in dem alle Völker Stück für Stück ihr Selbstbestimmungsrecht verlieren.

Die überschuldeten Schwachwirtschaftsländer sollten den Euro-Verbund zum Nutzen ihrer wirtschaftlichen Sanierung verlassen. Leistungsgleiche Staaten könnten sich in neuen Währungsunionen zusammenfinden. Wer heute sagt, ein Verzicht auf die Rettungsschirme und damit auf den Euro wäre ein Rückschritt für Europa, sollte daran denken, daß man in einer Sackgasse nicht ewig vorwärts fahren kann.

 

Gerd Schultze-Rhonhof, Jahrgang 1939, Generalmajor a. D., war bis 1996 Befehlshaber des Wehrbereichskommandos II und ist heute als Sachbuchautor tätig. Zuletzt erschien „Das tschechisch-deutsche Drama 1918–1939“ (München 2008).

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen