© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/12 02. März 2012

Ein Humboldt aus Marmor
Der Frankfurter Historiker Lothar Gall porträtiert Preußens Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt jenseits aller Kontroversen
Frank Schirmer

Wilhelm von Humboldt, der wie kein anderer den „Kulturstaat Preußen“ verkörpert, entsprach wenig dem Typus des pflichteifrigen, sich unablässig für das Gemeinwohl abrackernden Beamten. 1767 in Potsdam geboren, 1835 in seinem Tegeler Schlößchen gestorben, opferte er nur zehn seiner fünfzig Schaffensjahre dem Staatsdienst, rechnet man die römische Sinekure als Gesandter beim Heiligen Stuhl (1802–1808) nicht mit. Für seine epochale Leistung, die preußische Bildungsreform, die Reorganisation der Schulen und Hochschulen sowie die Gründung der Berliner Universität, benötigte er seit dem Frühjahr 1809, als er Sektionschef für Kultus und Unterricht im Innenministerium wurde, sogar nur wenige Monate, bevor er im Sommer 1810 wieder in die diplomatische Laufbahn wechselte und seinen König in Wien und London vertrat. Während der Wiener Zeit, als Humboldt mithalf, die Allianz gegen Napoleon zu schmieden, konnte er allerdings noch einmal ins Räderwerk der Weltgeschichte eingreifen.

Bis zu Siegfried A. Kaehlers denkmalstürzender Monographie „Wilhelm von Humboldt und der Staat“ (1927) ist der Lebensweg des Bildungsreformers, der nie eine Schule besuchte und nach nur vier Semestern Studium ins juristische Referendariat eintreten durfte, als Erziehungsroman nach dem Muster erzählt worden: Egoist verwandelt sich angesichts der Not des Vaterlandes in ein nützliches Glied der Gemeinschaft. Das längere Intermezzo im Staatsdienst, das dabei wie eine unbequeme, wenn auch heilsame Unterbrechung von Humboldts Privatgelehrtendasein anmutet, lud fraglos zu dieser eingängigen Erzählung ein.

Erst Kaehlers psychoanalytische Deutungen nicht scheuende Großstudie destruierte diese von Rudolf Haym (1856) bis Friedrich Meinecke (1908) und Eduard Spranger (1910) kanonisch geltende Fabel. Humboldt, so Kaehler, sei ein unverbesserlicher Epikureer gewesen, ein egozentrischer Genußmensch, auch als Familienvater notorischer Fremdgänger und fleißiger Bordellbesucher. Ähnlich unfähig wie sein homosexueller Bruder Alexander, sich an Familie, Freunde, nationale und religiöse Gemeinschaften zu binden, sei er auch im Dienst für König und Staat nur sich selbst treu geblieben. Seine vielgerühmte „humanistische“ Bildungsreform trage darum den Charakterfehler ihres Urhebers in sich, könne keine Altruisten erziehen, sondern kultiviere einen weltflüchtig-romantischen Individualismus.

Mit solchen Vorwürfen, die Kaehlers Lehrer Meinecke als geistigen Vatermord verstand, habe der nationalkonservative Historiker mitgeholfen, Humboldts Schöpfung, das auf „Einsamkeit und Freiheit“ ruhende deutsche Universitätssystem zu delegitimieren und damit unfreiwillig die NS-Agitation gegen „volksfremde“ Bildung genährt. Tatsächlich zehrten einige Humboldt-Kritiker nach 1933 von Kaehlers Argumenten. Der zur NS-Religion konvertierte Katholik Wilhelm Grau ging 1935 sogar weit darüber hinaus, als er Humboldts individualistisches Menschenbild mit dessen Kosmopolitismus und ostentativ-gräkomanen Heidentum verquickte, um so den Einfluß des jüdischen Materialismus zu belegen, dem der jugendliche Dauergast im Salon einer Henriette Herz schon früh widerstandslos erlegen sei.

Der deutsche Zusammenbruch von 1945 erledigte Humboldt-Kritik vom Schlage Graus, und obwohl Kaehlers Werk 1963 unverändert nochmals aufgelegt wurde, sprach Eberhard Kessel, ebenfalls ein Meinecke-Schüler, 1967 die wieder allgemeingültige Überzeugung aus, sie sei „verfehlt“. Dem stimmt auch die jüngste Humboldt-Biographie des Frankfurter Historikers Lothar Gall zu. Von thesenartigen Zuspitzungen oder kritischen Reduktionen im Stile Kaehlers und Graus hält der Emeritus prinzipiell nichts.

Daraus resultiert die mit einer guten älteren Gesamtdarstellung wie der von Friedrich Schaffstein (1951) konkurrierende Stärke seiner gründlichen, breit angelegten, streng chronologisch verfahrenden, ungemein narrativen, zitatenreichen Lebensbeschreibung, die an die Mehrheit jener Leser denkt, die weder über Spezialwissen zur deutschen Geistesgeschichte zur Zeit der sich formierenden „Weimarer Klassik“, zu der Humboldt als Freund Schillers und lebenslanger Gesprächspartner Goethes gehörte, noch über detailliertere Kenntnisse zur Geschichte Preußens vom Tod Friedrichs des Großen (1786) bis zum Wiener Kongreß (1815) verfügt.

Galls sämtliche Kontroversen in die Fußnoten verbannende, zumeist sie aber einfach ignorierende, dafür traditionelle Erwartungen an eine Biographie bedienende Darstellung bietet jedoch leider einen konturlos-glatten, einen Humboldt aus Marmor an. Nicht einmal der pfiffige Untertitel „Ein Preuße von Welt“, der ebenso wie die Verlagswerbung, der Leser dürfe sich freuen auf die Präsentation eines Mannes von „Weltoffenheit und geistiger Universalität“, spezifisch bundesdeutsche Identifikationswünsche anzusprechen scheint, erweist sich als Galls roter Faden.

Er kommt daher zwar nicht in Versuchung, einem albernen Präsentismus zu huldigen und seinen Helden zum „Vorläufer“ der „postnationalen“ Berliner Republik herabzuwürdigen. Aber erkauft wird diese nicht nur Humboldts Weltbürgertum betreffende Zurückhaltung des Urteils mit einer unverdienten Verharmlosung des „dritten Klassikers“.

Darum antwortet Gall auf einst brisante und heute mindestens noch relevante Fragen nicht. Etwa darauf, ob der Verfasser eines Essays, der 1791 die „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ auslotete, wirklich als Erzvater des deutschen Liberalismus einzustufen ist, oder ob der weitgereiste Mann, der keinem Vaterland lieber angehören wollte als Deutschland, ob der politische Denker, der im Schicksalsjahr 1813 das vielzitierte Credo formulierte, Deutschland müsse frei und stark sein, nicht um sich gegen seine Nachbarn zu verteidigen, „sondern deswegen, weil nur eine nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahrt, aus dem alle Segnungen im Innern fließen“, ob dieser preußische Staatsrat nicht ein Herold des deutschen Nationalismus gewesen sei.

Als ebenfalls zu heikel sortiert Gall überdies die Frage nach Humboldts Anthropologie der Kräfte aus, die in Verbindung mit seiner Idealisierung des antiken Griechentums und des zu seiner Nachahmung am besten befähigten Deutschtums in eine auch biologisch zu verstehende Rang- und Wertordnung der Völker mündet. Die peinlichste Zuflucht in Zonen antiquarischer Neutralisierung nimmt Gall indes in seinen reflexionslosen Betrachtungen über den preußischen Bildungs- und Wissenschaftspolitiker.

Angesichts des medialen Trommelfeuers, das sich in den letzten zwanzig Jahren gegen den „Mythos Humboldt“ richtete, um die deutschen Hochschulen reif für „Bologna“ zu schießen, hätte Gall, zumal nach der ohnehin unübertrefflichen Arbeit Clemens Menzes („Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts“, 1975), Spielraum genug gehabt, um ein Konzept zu diskutieren, das von Studenten forderte, sich „zur Wissenschaft um ihrer selbst willen zu erheben“, um durch „harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten wahrhaft gebildet“ zu werden.

Das richtete sich gegen das französische Modell bloß berufsvorbereitender „Specialschulen“, die allein „nützliches“ und anwendungsbezogenes Wissen vermitteln sollen. Mit „Bologna“ triumphiert dieser ökonomisch konditionierte Universitätsgedanke, während mit Humboldts Bildungsbegriff zugleich sein davon nicht zu trennendes Ideal der sich selbst behauptenden, den Geist in sich bewahrenden Nation abdanken muß. Für den altersmilden Emeritus Gall begann spätestens hier der Fechtboden, den es weiträumig zu umrunden galt.

Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt. Propyläen Verlag, Berlin 2011, gebunden, 443 Seiten, Abbildungen, 24,99 Euro

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