© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Unter Druck
Medien: Ob Politiker einen Skandal im Amt überleben oder nicht, hängt wenig von der Schwere ihres „Vergehens“ ab
Hans Mathias Kepplinger

Anfang der fünfziger Jahre gab es in der alten Bundesrepublik pro Jahr etwa zwei bis drei politische Skandale mit bundesweiter Beachtung. Dies blieb so bis Mitte der siebziger Jahre, als die Zahl dieser Skandale zunächst langsam und dann schneller zunahm und bis 1993 auf etwa zehn pro Jahr stieg. Bis 2005 hat die Zahl der politischen Skandale auf schätzungsweise 20 bis 25 pro Jahr erheblich zugenommen und dürfte seitdem weiter gestiegen sein.

Diese Entwicklung hat zahlreiche Gründe, vor allem die Veränderung des journalistischen Selbstverständnisses seit den siebziger Jahren, die wachsende Konkurrenz zwischen der Presse und dem Fernsehen sowie einzelnen Presseorganen seit den achtziger Jahren. Verstärkt wird der Prozeß in jüngerer Zeit von der zunehmenden Bedeutung des Internets als Quelle der Anprangerung von Mißständen durch Hobby-Journalisten sowie als Ort der Koorientierung der Journalisten der traditionellen Medien.

Möglicherweise hat die Zahl der Mißstände in der Politik zugenommen, und dadurch hat sich auch die Zahl der Skandale vergrößert. Dafür gibt es allerdings keine unabhängigen Belege, etwa Gerichtsakten und ähnliche Unterlagen. Besser beurteilen kann man den Einfluß der berichteten Realität auf die Art ihrer Darstellung anhand von Umweltskandalen. Die Zahl der Umweltskandale nahm in Deutschland seit den siebziger und achtziger Jahren erheblich zu. Für diesen Bereich kann man ausschließen, daß die wachsende Zahl der Skandale eine Folge der Vergrößerung der Mißstände war: Die Zahl der Umweltskandale nahm in dem Maße zu, in dem die schweren Umweltschäden abnahmen. Dies betrifft unter anderen die Belastung der Gewässer und der Luft und gilt in ähnlicher Weise – trotz Tschernobyl – für die radioaktiven Niederschläge und die kerntechnisch relevanten Störfälle in Kernkraftwerken.

Ähnliches kann man für die wachsende Zahl von Lebensmittelskandalen vermuten, weil die Qualität der Lebensmittel heute erheblich engmaschiger und genauer kontrolliert wird und sie deshalb heute vermutlich deutlich weniger Mängel aufweisen als früher. Die Auswirkungen von politischen Skandalen auf die Karriere von Politikern sind im Unterschied zu ihren Ursachen durch eine umfassende Untersuchung von Thomas Geiger und Alexander Steinbach gut bekannt.

Sie haben die Folgen der Skandalisierung von Politikern anhand von 108 politischen Skandalen im Zeitraum von 1949 bis 1993 im Detail recherchiert. Von den skandalisierten Politikern verloren 51 durch den Skandal ihr Amt. Von diesen 51 schieden 28 aus der Politik aus. Nur sieben nahmen irgendwann wieder ein politisches Amt ein, das im Rang ihrer ursprünglichen Tätigkeit entsprach. Die tatsächliche Schwere der Verfehlungen läßt sich über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren nicht mehr in allen Fällen eindeutig ermitteln. Dagegen kann man relativ gut feststellen, ob die Medien das Verhalten der Politiker als leichte oder schwere Verfehlung charakterisierten. Von den Politikern, denen schwere Verfehlungen vorgeworfen wurden, verloren zwei Drittel ihr Amt. Von jenen, denen leichtere Verfehlungen angekreidet wurden, war es ein Drittel.

Zwischen der Schwere der Verfehlungen, die den Politikern in den Medien vorgeworfen wurden, und ihren Chancen, einen Skandal im Amt zu überstehen, besteht demnach ein Zusammenhang. Eine ganz andere Frage ist, ob das Ausmaß der Vorwürfe immer dem Ausmaß der Fehler und Verfehlungen entsprach. Das erscheint aufgrund zahlreicher Gegenbeispiele auch aus jüngerer Zeit (Jenninger, Seiters, Härtel, Özdemir, Gysi, Oettinger, Strauss-Kahn, von Boetticher) eher unwahrscheinlich. Einen maßgeblichen Einfluß auf die Chancen der Skandalisierten, den Skandal im Amt zu überstehen, hat ihre Verteidigungsstrategie. Dabei kann man drei generelle Strategien unterscheiden – Schuldbekenntnisse, Selbstrechtfertigungen und Dementis. Fast die Hälfte der von 1949 bis 1993 skandalisierten Politiker, deren Reaktionen ermittelt werden konnten, rechtfertigte ihr Verhalten. Jeweils etwa ein Viertel dementierte die Vorwürfe oder bekannte sich zu ihnen. Die Reaktionen hatten einen bemerkenswerten Einfluß auf den Ausgang des Skandals. Am erfolgreichsten waren Politiker, die ihr Verhalten rechtfertigten, indem sie besondere Umstände hervorhoben, alternative Erklärungen für ihr Verhalten anboten oder auf übergeordnete Ziele verwiesen – also ein alternatives Schema zur Interpretation ihres Verhaltens präsentierten. Von den Politikern, die so reagierten, behielten zwei Drittel ihr Amt.

Ein Beispiel für die Erfolgschancen dieser Strategie ist Manfred Stolpe, der – kaum drohte ein neuer Vorwurf – schon eine Interpretation anbot, die ihn meist als Opfer der Umstände erscheinen ließ. Er präsentierte sich glaubhaft als selbstloser Anwalt von ausreisewilligen DDR-Bürgern, lieferte akzeptable Erklärungen für eine hohe Auszeichnung durch die DDR und benannte im Zweifelsfall einen Zeugen, der nicht mehr aussagen konnte, weil er tot war. Ein weiteres Beispiel sind die Erklärungen, mit denen Joschka Fischer sein Verhalten als politisch motivierter Schläger rechtfertigte, nachdem er 2001 zweifelsfrei auf einer schon lange bekannten Fotografie identifiziert worden war. Er bekannte sich zu dem, was nicht mehr zu leugnen war, stellte sein Verhalten als Gegengewalt dar und präsentierte sich als Moderator der Szene, der Schlimmeres verhindert hat.

Eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg einer solchen Strategie besteht allerdings darin, daß sie von relevanten Journalisten für glaubhaft gehalten, aufgegriffen und unter Umständen sogar ausgebaut wird – wie im Falle Fischers, dessen Verhalten von einigen Journalisten kontrafaktisch als generationstypisch dargestellt wurde. Politiker, die von 1949 bis 1993 skandalisiert worden waren und die Vorwürfe dementiert hatten, waren weniger erfolgreich als jene, die für ihre Verhaltensweisen alternative Erklärungen anboten. Von ihnen behielt statt zwei Dritteln nur knapp die Hälfte ihr Amt. Hierfür gibt es vor allem zwei Gründe. Zum einen sind reine Dementis ohne ergänzende Interpretationen des eigenen Verhaltens auch dann oft unglaubwürdig, wenn sie richtig sind.

Zum anderen besteht die Gefahr, daß neue Erkenntnisse ein Dementi zu Recht oder zu Unrecht widerlegen. Beispiele hierfür sind die Dementis von Ministerpräsident Filbinger zu seiner Rolle als Marinerichter im Dritten Reich und die Äußerungen von Minister zu Guttenberg zu den Plagiaten in seiner Doktorarbeit. Ein Beispiel besonderer Art ist das Dementi von Ministerpräsident Oettinger nach der Kritik an seiner Trauerrede anläßlich der Beerdigung von Filbinger. Das, was Oettinger tatsächlich gesagt hatte – Filbinger sei ein „Gegner des Nationalsozialismus“ gewesen –, läßt sich glaubhaft belegen, nicht aber das, was er angeblich gesagt hatte. In einer ähnlichen Lage war Köhler nach der Kritik an seinem falsch dargestellten Hörfunkinterview. Zwar behielt Oettinger sein Amt, er war danach jedoch so geschwächt, daß sein Ausscheiden nur noch eine Frage der Zeit war.

Den geringsten Erfolg hatten Politiker, die sich sofort oder später zu den Vorwürfen bekannten. Von ihnen behielt nur ein Drittel ihr Amt. Der Amtsverlust von Politikern, die sich zu den Vorwürfen bekannten, erscheint sachlich folgerichtig. Das trifft jedoch nur dann zu, wenn man annimmt, daß die Vorwürfe voll und ganz der Wahrheit entsprechen. Diese Annahme ist jedoch zuweilen falsch, wie die Rücktritte von Innenminister Seiters als Folge der Skandalisierung des Einsatzes der GSG 9 in Bad Kleinen und von Bundestagspräsident Jenninger als Folge seiner mißglückten Gedenktagsrede zeigen. Schuldbekenntnisse werden im Skandal zwar heftig gefordert, jedoch meist nicht honoriert. Die statistischen Zusammenhänge zwischen der Strategie der Skandalisierten und dem Verlauf der Skandale muß man mit Vorsicht betrachten, weil man vermuten kann, daß die Vorwürfe gegen Politiker, die sich zu ihnen bekannten, substantieller waren als die Vorwürfe gegen jene, die sich rechtfertigten.

Der Amtsverlust wäre im ersten Fall zwingender als im zweiten. Zudem dürfte die Sachlage häufig eine bestimmte Verteidigungsstrategie nahelegen. Von einer freien Wahl der Reaktionsweisen kann dann keine Rede sein. Dennoch deuten die unterschiedlichen Erfolgsquoten der Strategien darauf hin, daß sich sofortige oder spätere Bekenntnisse nicht auszahlen. Wer die freie Wahl hat und hofft, durch Bekenntnisse zu gewinnen, hat vermutlich schon verloren. Wer sich rechtfertigt und erwarten kann, daß seine Rechtfertigung den Medien glaubhaft erscheint, hat dagegen eine realistische Chance. Der entscheidende Grund dafür liegt erneut in der Natur des Skandals: Wer seine Schuld bekennt, bestätigt die Sichtweise der Skandalisierer, wer sich rechtfertigt, stellt sie in Frage. Je besser dies gelingt, desto besser sind die Chancen der Skandalisierten.

Einen erheblichen Einfluß auf den Verlauf politischer Skandale hat das Verhalten der Parteifreunde beziehungsweise das Ausmaß der innerparteilichen Konflikte. Ist die parteiinterne Kritik groß, sind die Chancen der Skandalisierten schlecht. Ist die parteiinterne Kritik gering, sind die Aussichten gut: Von den Politikern, deren Verhalten wenig parteiinterne Kritik hervorrief, behielten nahezu zwei Drittel ihr Amt. Von den Politikern, deren Verhalten aus dem eigenen Lager stark kritisiert wurde, war es dagegen nur ein Fünftel. Zwar wird man einschränkend feststellen müssen, daß sowohl die Bereitschaft zur Kritik als auch die Wahrscheinlichkeit des Amtsverlustes von der Art des skandalisierten Fehlverhaltens abhängen.

Deshalb besteht zwischen beiden Aspekten notwendigerweise ein Zusammenhang. Daneben spielen jedoch auch die Geschlossenheit einer Partei sowie die Eigeninteressen ihrer Mitglieder eine wesentliche Rolle. Ein Beispiel hierfür ist der zunächst mehrfach gescheiterte und dann erfolgreiche Versuch zur Skandalisierung der Parteifinanzen der CDU. „Entscheidend“ für den späteren Erfolg, so Georg Mascolo vom Spiegel, war „der Umstand, daß jetzt die CDU-Spitze bereit war, das Theaterstück ‘Helden und Schurken’ aufzuführen und auch das Ritual des Abschieds von ihrem Paten öffentlich zu zelebrieren“. Auch die sofortigen und verzögerten Erfolge der Skandalisierungen von Boettichers und Oettingers dürften ähnliche Ursachen gehabt haben, weil sie im Unterschied zur Skandalisierung von zu Guttenberg aufgrund der reinen Sachlage nicht zwingend erschienen.

Einen großen Einfluß auf den Verlauf von Skandalen hat schließlich die Qualität der skandalisierten Organisationen. Die angegriffenen Parteien, Unternehmen oder Verbände sind zuweilen über ihre eigene Tätigkeit unzureichend informiert. Sie schätzen die Angriffe auf ihre Verhaltensweisen falsch ein, und es fehlt ihnen an der notwendigen Gelassenheit für situationsgerechte Entscheidungen. Beispiele hierfür liefern die Reaktionen der katholischen Kirche auf die Vorwürfe des sexuellen Mißbrauchs von Kindern durch katholische Priester und Ordensleute, mit denen die Kirche spätestens seit den entsprechenden Vorwürfen in den USA und in Irland rechnen mußte.

Trotzdem wurden die Bistümer von den hiesigen Vorwürfen überrascht. Sie verfügten weder über stichhaltige Daten, noch präsentierten sie eine Strategie zum offensiven Umgang mit der Problematik. Zudem gelang es ihnen nicht, die Vorwürfe wegen sexuellen Mißbrauchs klar von den Vorwürfen wegen Prügelstrafen abzugrenzen mit der Konsequenz, daß sich beides zum Generalverdacht des Kindesmißbrauchs durch katholische Würdenträger verdichtete.

 

Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger hat seit 1982 den Lehrstuhl für Empirische Kommunikationsforschung an der Universität Mainz inne. Zuvor war er Assistent der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann. Der Beitrag erscheint als vorab veröffentlichter Auszug seines neuesten Buches mit freundlicher Genehmigung des Olzog-Verlages.

Hans MathiasKepplinger: Die Mechanismen der Skandalisierung. zu Guttenberg, Kachelmann, Sarrazin & Co.: Warum einige öffentlich untergehen – und andere nicht. Olzog Verlag, München 2012, 224 Seiten gebunden, 26,90 Euro

 

Polit-Skandale: Wer ging, wer blieb?

Philipp Jenninger,

CDU, mußte 1988 als Bundestagspräsident zurücktreten, weil er in einer Rede zum Gedenken an die „Reichskristallnacht“ vom „Faszinosum“ der politischen Erfolge Hitlers gesprochen hatte. Aus dem Kontext gerissen, wurde dieser Satz skandalisiert.

 

Manfred Stolpe,

SPD, wurde (seit 1992, zuletzt 2011) immer wieder vorgeworfen, er habe als Kirchenjurist in der DDR Informationen an die Stasi gegeben und sei dafür ausgezeichnet worden. Dennoch blieb er Ministerpräsident Brandenburgs sowie später Bundesminister.

 

Martin Hohmann

wurde 2003 auf öffentlichen Druck hin aus der Unions-Bundestagsfraktion und der CDU ausgeschlossen. Anlaß war die in den Medien kolportierte falsche Behauptung, der konservative Abgeordnete habe die Juden als „Tätervolk“ bezeichnet.

 

Joschka Fischer,

Grüne, geriet als Außenminister unter Rechtfertigungszwang, als 2001 Fotos auftauchten, die zeigen, wie er 1973 vermummt einen Polizisten verprügelt. Auch ohne klare Distanzierung von seiner gewalttätigen Vergangenheit blieb Fischer im Amt.

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