© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Pankraz,
J. Burckhardt und die Zeit der Krisen

Das Stichwort für die gegenwärtigen Sach- und Geisteslagen lautet „Krise“. Wir leben in eklatanten Krisenzeiten, alle empfinden das so. Wenn man von einem aktuellen Konsens der Stimmungen und Meinungen über alle gesellschaftlichen und politischen Lager hinweg sprechen darf, so in Hinblick auf das derzeitige Krisenbewußtsein. Faktisch jeder fühlt sicht krisenhaft aufgerüttelt und in die Bredouille gebracht. Tiefst eingeschliffene Überzeugungen verdunsten über Nacht. Und kein Trendforscher oder Nobelpreisträger weiß haltbaren Rat, wir erleben statt dessen eine Expertendämmerung von erschreckendem Ausmaß.

Alle nennen die Krise beim Namen, aber die meisten gebrauchen das Wort lediglich als Synonym für Katastrophe, Fall ins Nichts, Ende aller Sicherheiten. Man kann angeblich nichts gegen sie tun, neigt dazu, sich ihr blindlings zu unterwerfen. „Alle geistigen Entwicklungen“, predigte schon der große Kulturhistoriker Jacob Burckhardt am Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Vorlesungen, „sind krisenhaft, nämlich ruck- und stoßweise, wie im Individuum so in jeder vorstellbaren Gesamtheit. Die Krise ist der Entwicklungsknoten der Weltgeschichte, das müssen wir erkennen.“

Zur Erkenntnis gehört nun aber auch ein präzises Benennen der Tatbestände, und weiter gehört dazu die Kraft zur Entscheidung – Etymologie und früher Wortgebrauch jedenfalls stützen die populäre Meinung vom unabwendbaren Krisenschicksal nicht. Im Altgriechischen, aus dem das Wort „Krise“ stammt, bedeutete es genau das Gegenteil, nämlich „Entscheidung“, handelndes Eingreifen, freies Auswählen angesichts mehrerer Alternativen.

Krise war und ist in Wahrheit die Stunde der Entscheidung, wie schon Aristoteles wußte. Der Lauf der Dinge ist dann an einem Wendepunkt angelangt, eine scharfe Kehre in die eine oder andere Richtung ist fällig und kann nicht mehr hinweggeredet werden. Man muß sich entscheiden, und zwar in vollem Risikobewußtsein, weil ein günstiger Ausgang der Prozesse nicht präzise voraussagbar ist.

Solches Entscheiden in voll ausgereiften, wahrhaft existentiellen Krisensituationen ist natürlich außerordentlich heikel; nicht zuletzt Mediziner erfahren das, wenn sie vor Eingriffen stehen, die über Tod oder Leben ihrer Patienten „entscheiden“, wobei der Prozeß so oder so ausgehen kann. Denken und Tat werden eins, weshalb ja auch Franz Grillparzer seine königliche Medizinerin Libussa, die ihren Vater (vergeblich) zu heilen versucht, aufstöhnen läßt: „Man sage nicht, das Schwerste sei die Tat. / Da hilft der Mut, der Augenblick, die Regung. / Das Schwerste dieser Welt ist die Entscheidung“.

Wenn nicht alle Anzeichen täuschen, erleben wir gegenwärtig eine echte Libussa-Zeit. Die politischen, sozialen und kulturellen Horizonte haben sich überall verdunkelt. Der Zeitgeist ist voll auf Moll eingestellt – und das spiegelt sich auch auf den Seiten eines neuen Buches von Pankraz, das nächste Woche zur Leipziger Buchmesse in der Edition JF erscheint. „An der Kehre“ heißt es und bietet ganz überwiegend ernste Texte, die um ernste Dinge kreisen, um Finanzdesaster, gravierende politische Zankäpfel, Demokratiedefizite. Gelegentliche Scherze klingen da nur noch sarkastisch.

Bewußt hütet sich Pankraz, den Ratgeber zu spielen oder irgend etwas besser wissen zu wollen, er liefert weder Fahrpläne noch generelle Rezepte, noch Gebrauchsanweisungen für bestimmte Krisenfälle. Eher bemüht er sich um die Rolle eines gutwilligen Feuerwehrmanns oder Unfallhelfers, der Brandherden und anderen Unfallstellen nicht ausweicht, sondern sich mit besten Absichten ins Rettungsgetümmel stürzt, wobei er durchaus auf die Anweisungen der Fachleute vor Ort hört und sich in deren Ad-hoc-Strategien einfügt.

Es geht um drei Hauptbrandherde, die im Untertitel ausdrücklich beim Namen genannt werden: erstens die Finanzkrise; zweitens die krisenhafte Situation der „westlichen Welt“ überhaupt und ihr krisenhaftes Verhältnis zu anderen Weltregionen, insbesondere zur islamischen Welt; drittens die Krise der Demokratie und die Art, wie man mit ihr umgeht. In allen drei Abteilungen gibt es, wie der Leser bemerken wird, keine durchgängige „Erzählung“, sondern gleichsam ein Hüpfen von Unfallstelle zu Unfallstelle, wobei der jeweilige Brandherd aufs schärfste fokussiert wird und die Silhouetten der Helfer volle Kontur gewinnen.

Überwiegend handelt es sich um Texte, die bereits einmal in der JF erschienen sind, um Kolumnen, Essays, Glossen, welche nun hier – unabhängig von ihren ursprünglichen Erscheinungsterminen – eng zusammengebracht worden sind. Ausschlaggebend für Auswahl und Plazierung eines Textes war stets seine thematische Nähe zum vorausgehenden und zum folgenden. So ist zwar keine Erzählung im herkömmlichen Sinne entstanden, wohl aber – so hofft Pankraz – eine Art Über-Erzählung im Stile Heideggers oder Derridas, in der die Gestalt der Krise erst ihre wahren Ursachen und Wirkungen enthüllen mag.

Wie seufzte einst Martin Buber 1953 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels? „Der Mensch in der Krise, das ist der Mensch, der seine Sache nicht mehr dem Gespräch anvertraut, weil ihm dessen Voraussetzung, das Vertrauen, verlorengegangen ist.“ Das klang damals gut, doch wäre manches hinzuzufügen und vor allem noch einmal zu unterstreichen; Zeiten der Krise sind Zeiten der Entscheidung und der entschlossenen Tat, weil es darin um Tod oder Leben, Sein oder Nichtsein geht.

Freilich sind dazu auch Gespräche nötig, aber niemals Gespräche um ihrer selbst willen, nie Geschwätz, Wichtigtuerei, politische Rankünen. Krisenzeiten erfordern rasche, knappe Verständigung auf höchstem rhetorischen und wissenschaftlichen Niveau. Die Akteure müssen sich voll aufeinander verlassen können, und das heißt selbstverständlich, sie müssen einander vertrauen. Ohne Vertrauen im anspruchsvollsten Sinne keine Krisenbewältigung.

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