© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/12 09. März 2012

Stalins Versuchung
Der Vorschlag des sowjetischen Diktators vom März 1952, ein vereinigtes neutrales Deutschland zu schaffen, hat bis 1990 die Gemüter erhitzt
Detlef Kühn

Als am 10. März 1952 die Medien verbreiteten, der sowjetische Führer Josef Stalin habe die Wiedervereinigung Deutschlands, einen Friedensvertrag und den Abzug aller fremden Truppen unter der Bedingung vorgeschlagen, daß das vereinte Deutschland keinem Militärbündnis angehören dürfe, ging ein Aufatmen durch all die Kreise, die mit wachsender Verzweiflung in den letzten Jahren den Aufbau separater staatlicher Strukturen in Ost und West sowie im geteilten Berlin verfolgt hatten. Sollte es doch noch möglich werden zu verhindern, was sich seit 1945 drohend abzeichnete, nämlich die Aufteilung des besiegten Deutschen Reiches auf zwei Machtgruppierungen, die sich weltweit in unerbittlicher Feindschaft gegenüberstanden? Konnte vielleicht sogar in Europa das verhindert werden, was seit zwei Jahren bereits im ebenfalls geteilten Korea tobte – eine brutale militärische Auseinandersetzung, die die Welt bereits an den Rand einer atomaren Auseinandersetzung gebracht hatte?

Stalin hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs seine aus dem militärischen Sieg resultierenden Chancen entschlossen genutzt. Überall, wo seine Truppen standen, wurden kommunistische Machthaber etabliert. Im nördlichen Korea, das bislang eine japanische Kolonie war, marschierten sowjetische Truppen sogar auf dringende Bitten der Amerikaner ein, welche nicht in der Lage waren, die Japaner, die sich nicht im Kriegszustand mit der Sowjetunion befanden, zu entwaffnen. In Mitteleuropa zogen Amerikaner und Briten bei Kriegsende ihre Truppen aus Böhmen sowie Mecklenburg, Sachsen und Thüringen auf Linien zurück, die bereits in Jalta vereinbart worden waren. Zum „Ausgleich“ erhielten sie einen grotesk kleinen, inselartigen Teil des Stadtgebietes von Berlin, den sie dann auch noch mit Frankreich teilten. Stalin konnte sich als Hauptgewinner des Krieges fühlen und war entschlossen, seine Herrschaft auf ganz Deutschland auszudehnen. Schließlich hatte schon das große Vorbild Lenin gesagt, wer Deutschland hat, hat Europa.

Dabei war sich Stalin gewisser Risiken durchaus bewußt. Den Rüstungsvorsprung der USA im atomaren Bereich mußte er erst einmal durch enorme militärische und wirtschaftliche Anstrengungen aufholen, was bis 1952 wohl einigermaßen gelungen war. In Korea hatte er seinem Satrapen Kim Il Sung 1950 nach langem Zögern erlaubt, den Süden anzugreifen. Trotz Unterstützung durch das kommunistische China blieb aber ein Sieg letztlich aus, weil sich der Westen doch zu einem massiven militärischen Widerstand entschloß. Der Krieg in Korea war für beide Seiten nicht mehr zu gewinnen.

Dafür war der politische Schaden weltweit für Stalin nicht mehr zu übersehen. Die Westmächte gingen zu einer Politik der „Eindämmung“ der Sowjet-union und ihrer Satelliten über. In Westdeutschland, wo den Menschen noch der erst vor kurzem verlorene Weltkrieg in den Knochen steckte, hatte Bundeskanzler Adenauer den Westmächten unter dem Eindruck des Krieges in Korea die Wiederaufstellung deutscher Truppen zugesagt. Stalin beunruhigte das sehr. Er hatte seit dem Krieg vor der Kampfkraft und der Kampfmoral deutscher Soldaten großen Respekt. Ihren Einsatz an der Seite der Westmächte wollte er sicherlich verhindern. So waren also Hoffnungen, die mit der Initiative Stalins verbunden wurden, nicht von vornherein unberechtigt. Man müsse „ausloten“, was dahinter steckt, dachten viele.

Adressaten der Note waren die USA, Frankreich und Großbritannien, die gemeinsam die oberste Regierungsmacht in Deutschland ausübten. Aber natürlich war klar, daß auch die Westdeutschen gemeint waren, die zwar nur beschränkt souverän waren und mit der Sowjetunion keine offiziellen Beziehungen unterhielten, aber politisch bereits wieder eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Die Reaktion der Westmächte war zurückhaltend. Um so erstaunlicher war, daß sich Bundeskanzler Adenauer sofort zu Wort meldete und die Initiative in Bausch und Bogen zurückwies. Sie sei nicht ernst gemeint und verfolge nur das Ziel, den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zu stören. Viele deutsche Politiker und wohl auch die Westmächte waren überrascht, aber Adenauer hatte durch seine ablehnende Reaktion vollendete Tatsachen geschaffen. Die Diskussion war beendet, bevor sie begonnen hatte, auch wenn das Noten-Geplänkel noch weiterlief.

Seitdem wird diskutiert, ob im März 1952 die letzte Chance vertan wurde, die Teilung Deutschlands zu verhindern. Nicht nur „Neutralisten“ vertraten diese Meinung. Auch in der deutschlandpolitisch besonders aktiven FDP dachten viele so. Der damalige Bundesminister der Justiz, Thomas Dehler, hat sich nie verziehen, daß er und seine Partei sich von Adenauer so überfahren ließen und daß er nicht sofort zurückgetreten ist. Seine erbitterte Feindschaft mit Adenauer hat in diesem Erlebnis ihre Ursache.

Adenauer fand aber auch Verteidiger. Sie betonten, der Vorschlag Stalins sei nicht ernst gemeint gewesen, ein Schaden für Deutschland deshalb nicht entstanden. Was Stalin im einzelnen geplant hatte, ist auch heute nicht klar. Wahrscheinlich hätte er sich verschiedene Optionen so lange wie möglich offengehalten. In der SED-Führung jedenfalls befürchtete man durchaus, Stalin könnte die DDR opfern. Auch wenn Stalins Nachfolger nach 1953 auf Konsolidierung ihrer Herrschaft in der DDR setzten, blieb man sich in Moskau bewußt, daß man mit der „deutschen Karte“ immer noch einen Trumpf im Ärmel hatte, den man bei Bedarf ziehen konnte.

1984 reiste einer der wichtigsten Deutschland-Experten, Wjatscheslaw Daschitschew, durch die Bundesrepublik und hielt Vorträge über die Stalin-Note – ein Thema, das man dort gerade erfolgreich verdrängt hatte. Daschitschew, der den Vorschlag Stalins als eine wichtige Initiative darstellte, sollte offenbar herausfinden, wie die Westdeutschen dreißig Jahre später auf das Thema Wiedervereinigung reagierten. Zu einer aktiven Politik konnten sich aber weder Gorbatschow noch die Bundesregierung entschließen. Schließlich nahmen die Menschen in der DDR das Schicksal Deutschlands in ihre Hand und erzwangen die Einheit. Eine späte Rechtfertigung für Adenauer ist dieser Erfolg jedoch nicht.

Foto: Stalin am Schreibtisch, DDR-Publizistik über seinen Vorschlag (Leipziger Volkszeitung) und FDP-Vorsitzender Thomas Dehler, der vehement für die Wiedervereinigung stand: Letze Chance vertan

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