© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Hannes Stein hat in seiner Kolumne für die Welt (Ausgabe vom 6. März) gegen Joachim Gauck den Vorwurf erhoben, den „geschichtspolitischen Konsens“ gekündigt zu haben. Der sei durch Richard von Weizsäcker gestiftet worden, der als Bundespräsident in seiner Rede zum 8. Mai 1985 davon sprach, die Vernichtung der Juden in der NS-Zeit sei „beispiellos in der Geschichte“ gewesen. Es lohnt sich nicht, der – schwachen – Argumentation Steins im einzelnen nachzugehen, nur auf einen Aspekt sei hingewiesen: Stein glaubt nicht daran, daß man die „Einmaligkeit“ objektiv begründen könne (unter Verweis auf die Opferzahlen oder die Art des Verfahrens), letztlich geht es seiner Meinung nach um das „Gefühl“, das uns sagen sollte, daß die massenhafte Vernichtung von Russen, Ukrainern, Armeniern, Deutschen etwas anderes ist als die massenhafte Vernichtung von Juden. Für diese Offenheit muß man dankbar sein, denn es wird damit eine sonst selten klar hervortretende Dimension deutlich, um die es bei aller Erinnerungsarbeit geht, und die wiederum eigentlich nur zu begreifen ist mit Hilfe der theologischen Annahme, daß von den Nationalsozialisten – Stein meint: von den Deutschen – eben nicht irgendein, sondern das „Gottesvolk“ ausgelöscht werden sollte. Was allerdings dazu führt, daß Stein Gauck ungewollt recht geben muß: Nur bejaht er die „Entweltlichung des Holocaust“ ausdrücklich, die Gauck wegen der Tendenz zu „Überhöhung“ und „unheiliger Sakralität“ kritisiert. Zu betonen bleibt noch, daß Gauck in der Ansprache, auf die hier Bezug genommen wird, die letzte Folgerung aus seiner Argumentation gar nicht gezogen hat, die aber doch zwingend ist, insofern als die Rede von der „Einmaligkeit“ immer mit der Vorstellung verknüpft bleibt, daß jüdische Opfer etwas qualitativ anderes sind als nichtjüdische Opfer – eine Annahme, die weder der Christ noch der Säkulare akzeptieren kann.

Aus der Mode gekommen: „Aufessen“ (was auf dem Teller ist), „Auftragen“ (von Kleidungsstücken), „Aufschließen“ (in der Reihe).

Dem Bedeutungszuwachs der Kommunikation entspricht der Bedeutungsverlust des Wortes.

Bildungsbericht in loser Folge XIX: Die Empörung über die Ausbreitung des Analphabetismus in Deutschland – man spricht von etwa sieben Millionen Erwachsenen, die unter diese Kategorie fallen – bleibt verhalten. Tatsächlich dürfte es sich nur um eine Anpassung an westliche Standards handeln, das heißt, man hat es mit einem strukturellen Problem zu tun, das in avancierten Gesellschaften wie den USA seit langem bekannt ist, wo ein Subproletariat entsteht, das man aufgrund seiner Kenntnismängel zu keiner produktiven Arbeit brauchen kann oder mühselig nachschulen muß, wenn das unvermeidlich ist (im Fall der unter Rekrutenmangel leidenden US-Army etwa). Die Entsprechung zum Analphabeten, der einen Hauptschulabschluß erworben hat, ist übrigens der Abiturient, der keinen Zeitungsartikel sinnentnehmend lesen und keinen fehlerfreien Satz schreiben kann.

Applaus als Dekadenzphänomen: Vorschußapplaus (wenn die Leistung erst zu erbringen ist), Dauerapplaus (egal, welche Leistung erbracht wird), Mitleidsapplaus (obwohl keine Leistung erbracht wird). Zweifelsfall: Klerikaler Applaus (bei gottesdienstlichen Massenveranstaltungen als Ersatz fürs Amen?); Verwechslungsgefahr: Höflichkeitsapplaus (wenn der Maestro die Bühne betritt).

Wolf Biermann hat unlängst in einem Interview auf die Frage, wie sich seine merkwürdige Position in der DDR der siebziger Jahre – nie ganz festzumachen, zwischen Loyalitätsbekundung und Totalopposition schwankend – erklären lasse, geantwortet, es sei ihm eben darum gegangen, wider den Stachel zu löcken und damit Geld zu verdienen. Man muß für die Äußerung auch deshalb dankbar sein, weil Biermann im Grunde die Schizophrenie aller politischen Intellektuellen beschreibt, die Brotberufe scheuen (weil das die Unabhängigkeit mindert oder man zum Bohémien prädestiniert ist) und doch stets auf der Suche nach jemandem sind, der sie fürs Denken bezahlt, am liebsten aus den Reihen jener, die man mit Kritik zu überschütten gedenkt.

Doch noch eins zu Steins Angriff auf Gauck: Die Berufung auf den „Konsens“ ist immer ein Ausdruck von Schwäche. Man weiß im Grunde um die Unhaltbarkeit der eigenen Position und wehrt das Argument nicht mit Argumenten ab, sondern mit dem Verweis auf eine Übereinstimmung (aller), die eben nicht naturwüchsig ist, sondern gemacht – Noam Chomsky spricht von der „Konsensmaschine“ –, nicht wohlbegründet, sondern abhängig von Interessen und im Moment des Aufrufs schon keine Selbstverständlichkeit, wie mit dem Begriff Konsens suggeriert wird.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 30. März in der JF-Ausgabe 14/12.

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