© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Lockerungsübungen
Wir stehen in der Pflicht
Karl Heinzen

Im Jahr 2010 gab das Bundessozialgericht der Klage eines in Deutschland nach Arbeit suchenden Franzosen statt, der Hartz-IV-Leistungen sogleich und nicht erst nach einer Wartezeit von drei Monaten beansprucht hatte. Das seit fast 60 Jahren bestehende Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), dem zufolge die Vertragspartner Zuwanderern aus den anderen Unterzeichnerstaaten die gleichen Sozialleistungen zu gewähren haben wie ihren eigenen Bürgern, müsse, so die Begründung, auch auf das Arbeitslosengeld II angewandt werden.

Anstatt sich rechtskonform zu verhalten, hat die Bundesregierung im Dezember 2011 einen „Vorbehalt“ gegen das EFA erklärt und nun die Arbeitsagentur angewiesen, zur höchstrichterlich als unzulässig verworfenen Praxis zurückzukehren. Das zuständige Ministerium hat ein reines Gewissen: Man wolle bloß nicht länger jene EU-Bürger diskriminieren, deren Heimatstaaten zufälligerweise nicht dem EFA beigetreten sind.

Kritiker weisen darauf hin, daß kurzfristige Einsparungen durch die neue Anweisung des Arbeitsministeriums nicht zu erwarten seien. Wer nach Deutschland einwandere, habe in der Regel eine Stelle in Aussicht. Auch ließe sich die Sperrfrist für Hartz-IV-Leistungen durch die Annahme eines Minijobs umgehen. Da der Bundesregierung dies alles bewußt sein dürfte, ist zu befürchten, daß sie mit schweren sozialpolitischen Verwerfungen in EFA-Partnerstaaten wie Griechenland, Italien, Spanien und Portugal rechnet, die zu massiven Auswanderungswellen insbesondere nach Deutschland führen könnten. Einer daraus resultierenden Kostenexplosion bei den deutschen Sozialleistungen soll frühzeitig der Riegel vorgeschoben werden.

Was haushalterisch verantwortungsvoll klingt, ist wirtschafts- und europapolitisch aber fatal. Wer Deutschland für dringend benötigte Fachkräfte aus dem Ausland attraktiv erscheinen lassen möchte, muß ihnen die Sorgen nehmen und darf keine neuen Existenzrisiken schaffen. Wer für mehr Vergemeinschaftung in der EU eintritt, darf diese nicht auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik beschränken, sondern muß zugleich eine Sozialunion anstreben. Der deutsche Beitrag ist nicht nur für die Konsolidierung anderer Staatshaushalte und die Stabilisierung des Finanzsektors gefordert. Wir stehen auch für die Menschen in unseren Partnerländern in der Pflicht.

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