© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/12 16. März 2012

Der erste Sieg des Maghreb
Vor fünfzig Jahren endete mit der Anerkennung der Unabhängigkeit Algeriens eine Epoche französischer Kolonialpolitik
Karlheinz Weissmann

Am 18. März 1962 unterzeichnete Charles de Gaulle den Vertrag von Evian, der Algeriens Recht auf Selbstbestimmung anerkannte. Das Plebiszit am 1. Juli – bei dem 99 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit votierten – und die Anerkennung des algerischen Staates durch Frankreich zwei Tage später waren im Grunde eine Formsache. Damit endete der letzte Kolonialkrieg, den die Republik nach dem Zweiten Weltkrieg zu führen hatte, der Kampf um den Rest des empire, des einst zweitgrößten Kolonialreichs einer europäischen Macht, oder wie es die Fiktion – vor allem der Algerienfranzosen, der pieds-noirs – wollte, der Kampf um einen integralen Bestandteil Frankreichs, seiner Departements an der Gegenküste des Mittelmeers.

Die Vorstellung, daß Algerien nicht irgendein fremder Flecken Erde sei, sondern „œuvre française“ – „französische Tat“, war über Generationen hinweg allgemein akzeptiert. Das hatte damit zu tun, daß dieses nordafrikanische Gebiet seit seiner Inbesitznahme 1830 zum Anziehungspunkt für viele Auswanderer wurde. Die weißen Siedler waren selbstverständlich privilegiert – anders als die Autochthonen, die man auf den Status von „sujets“ (wörtlich: Untertanen) herabdrückte –, aber sie bauten auch eine funktionierende Landwirtschaft auf, die den französischen Bedarf an Lebensmitteln zu erheblichen Teilen decken konnte, und der Staat verstand seinen Auftrag zur Ausbreitung der civilisation so, daß in Algerien neben der Infrastruktur mit Straßen, Eisenbahnlinien, Krankenhäusern etc. ein Schulsystem entstand und eine Rechtspflege nach europäischem Vorbild, die zum Beispiel die Sklaverei mit aller Härte unterdrückte.

Wie in anderen Kolonialgebieten auch, hatte der Erste Weltkrieg auf die einheimischen Eliten und vor allem auf die in Europa als französische Soldaten kämpfenden Algerier Eindruck gemacht. Man erkannte die Sterblichkeit der weißen Herren. Die Folge war, daß seit den 1920er Jahren eine Unabhängigkeitsbewegung entstand, die sich durch die chaotischen Verhältnisse im Mutterland am Ende des Zweiten Weltkriegs zu Aufstandsbewegungen ermutigt sah. Die Unruhen wurden allerdings rasch unterdrückt. Gleichzeitig bemühte sich das Mutterland um eine wirkliche Integration Algeriens. 1947 verlieh Paris allen Algeriern die französische Staatsbürgerschaft. An der faktischen Machtverteilung änderte das aber kaum etwas.

Die Lage schien sich in der Folgezeit eher zu beruhigen, bis zur Niederlage der Franzosen in Vietnam. Dien Bien Phu wirkte auf die algerischen Nationalisten wie ein Fanal. Ihr Aufstand begann am 1. November 1954 mit einem Anschlag. Die Opfer waren ein junger weißer Siedler, seine Frau sowie ein Algerier, Reserveleutnant der französischen Armee, der dem Paar zu Hilfe eilen wollte. Der Historiker Charles Vaugeois äußerte, daß diesen ersten Morden des algerischen Untergrunds symbolische Bedeutung zukomme, insofern als der Algerienkrieg eben nicht nur ein Kampf zwischen Franzosen und Arabern war, sondern auch ein innerarabischer Konflikt.

In den folgenden beiden Jahren blieb es bei Scharmützeln. Erst im Herbst 1956 intensivierte sich die Auseinandersetzung, im Januar 1957 versuchte die Nationale Befreiungsfront FLN mit der „Schlacht um Algier“ sogar eine militärische Entscheidung zu erzwingen, scheiterte aber. Das hatte auch damit zu tun, daß es der Organisation nicht gelang, ihre notorischen Geldprobleme zu lösen. Haupteinnahmequelle war eine Art „Revolutionssteuer“, die die algerischen Gastarbeiter in Frankreich gaben oder die man ihnen abpreßte. Das Geld mußte allerdings außer Landes geschafft, das heißt über Vermittlung einer Schweizer Bank „gewaschen“ werden. Die berühmten „Kofferträger“, Europäer, die aus verschiedenen Gründen mit dem FLN sympathisierten, erledigten den Gang über die Grenze.

Diese Entwicklung war für die französische Position aber weniger bedenklich als der fehlende internationale Rückhalt. Der wiederum hatte zu tun mit der Entschlossenheit der Sowjetunion und der USA, den nordafrikanischen Raum unter ihre Kontrolle zu bringen. Einen gewissen Vorgeschmack, auf das, was zu erwarten stand, hatte Frankreich (neben Großbritannien) beim gemeinsamen Auftritt der Supermächte während der Suezkrise bekommen. Darüber hinaus signalisierte Washington, daß es an einem unabhängigen Algerien interessiert sei, was in der westlichen Welt aufmerksam registriert wurde und zur Isolation Frankreichs beitrug. Eine Folge dieses Prozesses war, daß sich die Einheitsfront der „pours“ im Inneren – also der Befürworter der „Algérie française“ – aufzulösen begann.

Dabei spielte auch die wachsende Zahl von Dienstverweigerern eine Rolle, die nicht in Algerien eingesetzt werden wollten, die Empörung über Folterungen durch französische Sicherheitskräfte und der Einfluß jener „Progressiven“, für die ein bißchen Landesverrat zum radical chic gehörte. Von den Linkskatholiken über die kommunistischen Fußtruppen (deren Führung vorsichtiger taktierte) bis zu Vorzeigeintellektuellen wie Simone de Beauvoir oder Jean-Paul Sartre reichte die Allianz der „contres“. Die, die gegen den Algerienkrieg auftraten, folgten zum kleineren Teil Gewissensgründen, zum größeren einem ideologischen Entwurf, in dem die Erhebung der farbigen Völker zum Ersatz für die ausgebliebene Revolution des Proletariats geworden war.

Die Folgenschwere dieser Deutung des Algerienkriegs ließ sich am Beginn der sechziger Jahre noch nicht absehen. Was auch damit zusammenhing, daß die Position der Verteidiger Französisch-Algeriens nach wie vor stark schien: Der neue Staatschef de Gaulle erklärte, Algerien halten zu wollen, es gab die einflußreichen Veteranenverbände und eine nationalistische Szene von erheblicher Radikalität, in der man die Auffassung vertrat, daß es in Nordafrika nicht um irgendeinen Kolonialkonflikt gehe, sondern um den Auftakt zu „Rassenkriegen“, und schließlich die Algerienfranzosen selbst, die, als der Zweifel an de Gaulle wuchs, am 24. Januar 1960 in Algier Barrikaden errichteten und die Armee zu Hilfe riefen.

Da hatte Paris längst Verhandlungen mit dem FLN aufgenommen. Die Suche nach Alternativen – ein Abkommen mit den Gemäßigten unter den Rebellen, eine Konföderation von Mutterland und ehemaliger Kolonie – wurde abgebrochen. Die Folge war eine dramatische Zuspitzung der Lage. Die Stimmung in Algerien explodierte. Die „Weißen“ fühlten sich verraten, und als de Gaulle im Dezember des Jahres noch einmal nach Algier kam, gab es gewaltsame Proteste, vier Monate später, im April 1961, putschten sogar Truppenteile, um die Aufgabe des Landes zu verhindern, gleichzeitig bildete sich ein Geheimbund aus Soldaten und Offizieren – die Organisation Armée Secrète OAS –, der zuerst in Algerien einen Gegenmaquis, dann in Frankreich terroristische Zellen aufbaute und zuletzt noch einen Anschlag auf de Gaulle verübte.

Den Gang der Dinge hielt auch das nicht auf. Aber in den Jahren 1961/62 konnte man den Eindruck gewinnen, als ob Frankreich am Rand eines Bürgerkriegs stünde. Die Bedingungen dafür waren sicher gegeben: die Vertreibung von mehr als einer Million Algerienfranzosen, die nach der Machtübernahme des FLN fluchtartig ihre Heimat verließen, die Massaker an den Harki, den einheimischen Hilfstruppen der Franzosen, die politische Polarisierung im Mutterland, die Spaltung der Armee, in deren Offizierskorps es schwer kalkulierbare Sympathien für die OAS gab. Zum Ausbruch gekommen ist der Konflikt aber nicht. Trotzdem muß man feststellen, daß die Heftigkeit des „Pariser Mai“ eine Ursache darin hatte, daß die „Neue Linke“, deren Kontur sich im Netzwerk der „contres“ abzeichnete, alte Rechnungen begleichen wollte, während der Haß der Rechten auf die Person de Gaulles erst absorbiert wurde durch dessen Auftreten als „Retter“; nur die pieds-noirs beziehungsweise ihre Nachkommen blieben unversöhnlich und bilden bis heute ein wichtiges Wählerpotential des Front National.

De Gaulle hat die Aufgabe Algeriens damit gerechtfertigt, daß der Krieg militärisch nicht zu gewinnen war, daß die Franzosen ihn je länger je weniger unterstützten, daß Frankreich seinen Einfluß auf die arabische Welt nur behalten konnte, wenn es ihn in Zukunft indirekt ausübte und daß sich die grande nation auf ihre zentralen Anliegen konzentrieren müsse, wenn sie als Macht fortbestehen wolle. Zuletzt fügte er noch hinzu, daß bei Aufrechterhaltung der Union aus Frankreich und Algerien der Zustrom von Arabern und damit die Islamisierung Frankreichs nicht zu verhindern gewesen wären. Er wolle nicht, so äußerte er pointiert, daß sein Heimatort Colombey-les-Deux-Églises eines Tages umbenannt werde in Colombey-les-Deux-Mosquées.

Was die beiden ersten Argumente angeht, kann man ihnen beipflichten, die folgenden beruhten schon vor fünf Jahrzehnten auf Illusionen, was das letzte betrifft, kann sich der Alptraum de Gaulles durchaus erfüllen: Die arabische Einwanderung, die nach dem Ende des Algerienkriegs ungehindert fortschritt, hat wesentlich dazu beigetragen, daß man in manchen Gegenden Frankreichs längst das Gefühl hat, in einem Teil des Maghreb zu sein.

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