© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Pankraz,
das imperiale Kolleg und die Schneeflocke

Gerade noch rechtzeitig zu Winterschluß und Frühlingsanfang, gewissermaßen im Winterschlußverkauf, präsentierte das „Imperial College“ in London (zusammen mit Forschern von der Universität Regensburg) eine „wissenschaftliche Sensation“. Zum ersten Mal, so verlautbarte man, sei es gelungen, im Computer die Entstehung von Schneeflockenkristallen zu simulieren. Der informierte Zeitungsleser kratzt sich verwundert am Hinterkopf. Schnee, Flocke, Kristall –was soll denn das? Welchen Nutzen verspricht man sich davon?

Um mit dem Nutzen anzufangen: Die großen Schneeflockenforscher, die Kobayashi oder Ivar Olovsson, haben sich längst damit abgefunden, daß keine Industrie nach ihren Forschungsergebnissen giert. Sie genießen das sogar. Es sind, wie die meisten ihrer übrigen Kollegen auch, ausgesprochen gelassene Naturen. Ihre Institute liegen – logischerweise – alle im hohen Norden, in Sapporo oder in Uppsala, wo man oft lange eingeschneit ist.

Viel mehr als der Nutzen interessiert die Schneeflockenforscher die ästhetische Attraktivität ihres Forschungsgegenstandes; er scheint sie alle zu halben Poeten zu machen. Prächtige Vergleiche tauchen in ihren Texten auf. Sehr große Flocken heißen „Lappenhandschuhe“. Professor Ukichiro Nakaya, ein ehemaliger Kernphysiker, der lange in Hokkaido stationiert war und aus purer Melancholie angesichts der harten Winter dort zum Schneeflockenforscher wurde, nannte die Flocken, weil sich aus ihnen die Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsverhältnisse der Stratosphäre ablesen lassen, „Briefe, die uns vom Himmel gesandt werden“.

Über den Eifer der Computer-Strategen vom imperialen Kolleg werden sie wohl lächeln. Mag man in London und Regensburg auch noch so oft versichern, daß nun, nach der gelungenen Simulation, sehr schnell ein physikalisches Gesetz über die Kristallisation von Schneeflocken formuliert werden könne – die Kobayashi, Olovsson und Nakaya werden auf ihrer Skepsis beharren, denn sie haben die pure Erfahrung auf ihrer Seite.

Warum kristallisiert das Wasser, das theoretisch zehn verschiedene Feststrukturen annehmen könnte, im Falle der Schneeflockenbildung immer nur als „hexagonales Eis“, so daß sich diese wundersamen Gebilde mit sechszähliger innerer Symmetrie bilden? Und warum „altern“ Schneeflocken, warum verlieren sie auf der Erde allmählich ihre scharfe Kontur, auch wenn es kein Tauwetter gibt und man sie vollkommen unberührt läßt? Kobayashi, Olovsson und Nakaya konstatieren: Wir wissen es nicht.

Fest steht nur: Sind die äußeren Verhältnisse „günstig“, nämlich im Schwebezustand und weder zu warm noch zu kalt, ergibt sich immer (immer!) jene schöne hexagonale Symmetrie. Und kein Zufall verunstaltet etwas, konträr: der Zufall wird zum Diener der Individualisierung, wir erhalten lauter ideal symmetrische Sechsecke, von denen indes kein einziges dem anderen gleicht. Man bedenke: Keine unter den Trilliarden und Abertrilliarden von Schneeflocken gleicht der anderen, doch alle sind gleich schön auskristallisiert! Was sollen da Computer, die zwei, drei, vielleicht auch siebzig, gar tausend, von ihnen simulieren?

Es kann nicht wundernehmen, daß sich – lange vor jeglicher Computersimulation – immer wieder Ästhetiker und Literaten dem Phänomen „Schneeflocke und Hexagon“ zugewandt haben. Martin Opitz, Goethe, Novalis wären zu nennen, heute spürt der Germanist Ulrich Beil von der Universität München den kristallinen Elementen der Sprache in den Gedichten Hofmanns-thals, Georges oder auch Alfred Momberts nach und versucht, den Temperatur-, oder besser: den Temperamentsgrad zu ermitteln, ab dem ein Sprachstück zur „Schneeflocke“ zusammenschießt und jedem Wort seinen Gitterplatz im poetischen Kristall zuweist.

Pankraz hält den Vergleich zwischen Schneeflocke und Gedicht, Naturkristall und Sprachkristall durchaus nicht für einen bloßen Spleen. Kristalle sind Ausdruck einer stabilen Gleichgewichtslage in der Mikrowelt, sie bilden die Notwendigkeit in der Natur ab, kommen aber selten „rein“ vor; die Schneeflocke ist da die große Ausnahme. Störstellen, Fehlstellen, nagen an ihrer Identität, nicht anders als der Zufall momentaner subjektiver Befindlichkeit an der Idealität des Gedichts nagt.

Andererseits entspricht der eiserne Wille zur Form im Dichter recht gut der Energie, mit der sich die Kristallisation beim Fall der Schneeflocke durchsetzt. Und auch das „humane“, sozialpolitische Anliegen der meisten Dichter gehört hierher. Man darf sich sehr wohl fragen, ob es nicht neben den Natur- und Sprachkristallen auch noch Sozialkristalle gibt, ideale gesellschaftliche Strukturen, in denen alle Bürger ihre Individualität ausbilden können, ohne daß das Ganze dadurch im geringsten beschädigt wird.

Freilich sollte man dabei stets mitbedenken, daß gewaltsame Eingriffe von außen gerade nicht zum schönen Kristall führen, daß hier alles auf die Erfüllung innerer Gesetzmäßigkeiten ankommt. Nicht eherner Bergkristall also und schon gar nicht synthetisch zusammengerührter „reiner“ Chemiekristall taugen als Metapher für gelungene gesellschaftliche Zustände, sondern einzig das „Unternehmen Schneeflocke“. Und die Schneeflocke demonstriert uns ja auch, daß keine kristalline Utopie von Dauer sein kann, zumindest unter irdischen Verhältnissen nicht.

Ivar Olovsson sagt es in der Sprache des Chemikers: „Die kristallinen Schneesterne werden im Laufe der Zeit abgerundet und kompakt. Wassermoleküle werden von den äußeren Teilen des Sterns ins Innere geführt. Wie das genau geschieht, wissen wir (noch?) nicht. Aber mechanische Einflüsse (...) tun ein übriges, um auch die schönsten Kristalle letzten Endes für immer zu zerstören.“

Die aktuellen Mitteilungen aus London und Regensburg klingen im Vergleich dazu natürlich äußerst optimistisch, geradezu triumphal. Ob sie aber zutreffen, müßte man erst beweisen.

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