© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/12 23. März 2012

Was nicht paßt, wird passend gemacht
Neid und Mißgunst waren der Grund für den Antisemitismus in Deutschland, behauptet jedenfalls Götz Aly
Konrad Löw

Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ So lautet der Titel, den 2011 mit Götz Aly ein bekennender Alt-Achtundsechziger veröffentlicht hat und der im ersten Jahr gleich mehrere Auflagen erleben durfte, nicht nur insofern mit Goldhagens Bestseller „Hitlers willige Vollstrecker“ vergleichbar. Schon im Vorwort werden die diversen eindrucksvollen Förderungen des Buchprojekts herausgestellt, ein sicheres Indiz dafür, daß die Thesen wissenschaftlich ausgetretene Pfade nicht allzu weit verlassen.

Alys Kernthese: Der Sozialneid der Deutschen sei es gewesen, der Hitler und sein Morden ermöglicht habe. Diese Sicht überrascht. Gab es wirklich „in allen Schichten“ einen letztlich Vertreibung und Mord tragenden, „eingefressenen“ Antisemitismus? „Als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus konstituierte sich 1893 der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.)“, schreibt Aly gleich zu Beginn des Kapitels „Krieg, Niederlage, Judenhaß“. Es waren damals sogar Versuche im Gange, antisemitsiche Parteien zu gründen. Genau so war es, aber sie fanden nur ein geringes Echo, weshalb sie schon nach wenigen Jahren wieder zerfielen. Aly widerlegt sich praktisch selbst, der Antisemitismus war offenbar kein Massenphänomen.

Mit den gescheiterten Parteigründungen waren die Antisemiten nicht gänzlich von der Bildfläche verschwunden, wofür Aly Jakob Wassermann in den Zeugenstand ruft. Der erinnert sich: „Obwohl ich meine Ehre und ganze Kraft darein setzte, als Soldat meine Pflicht zu tun und das geforderte Maß der Leistung zu erfüllen, gelang es mir nicht, die Anerkennung meiner Vergesetzten zu erringen.“ Über Jakob Wassermann erfahren wir von Aly: „Er war als Kind eines Fürther Spielwarenfabrikanten wohlbehütet aufgewachsen.“ Wirklich? Als die Mutter starb, war Jakob neun Jahre alt. Mit dem Vater verstand er sich nicht und brannte durch; mit dem Onkel verstand er sich ebenfalls nicht und litt. Seine Lebenserinnerungen, unter dem Titel „Mein Weg als Deutscher und Jude“ erschienen, sind voller Bitterkeiten.

Alle Deutschen, egal ob Jude oder nicht, müssen sich harte Worte gefallen lassen, so wenn er schreibt: „Ich erkannte aber bald, daß die ganze Öffentlichkeit von Juden beherrscht wurde. Die Banken, die Presse, das Theater, die Literatur, (...) alles war in den Händen der Juden.“ Wassermann hätte auch den Anwaltsstand und die Ärzteschaft hinzufügen können. Doch einem Bekannten, der den Juden ihre Maßlosigkeit zum Vorwurf machte, antwortete er: „Seine Gefahr und sein Unrecht lägen in der Verallgemeinerung. Es gäbe solche und solche Juden.“ Seine Vorhaltungen an die Adresse der Nichtjuden mildert er nicht minder versöhnlich: Von all dem findet sich bei Aly kein Wort. Erst recht fehlt jeder Hinweis auf Juden, die als Teilnehmer des Ersten Weltkriges betonen, auf keine Weise diskriminiert worden zu sein, wie etwa der Philosoph Karl Löwith: „Einen Unterschied der Rasse habe ich während meines ganzen Frontlebens weder von der Mannschaft noch vom Offizierskorps jemals zu spüren bekommen.“

Warum aber bleibt derlei ausgeblendet? Wassermanns Betrachtungen stehen unter der Überschrift: „Mein Weg als Deutscher und Jude“. Doch Aly trennt die Juden von den Deutschen, obwohl sich die meisten Juden wie Wassermann als Deutsche und Juden zugleich gefühlt haben. Aly folgt damit unabsichtlich der nach 1933 praktizierten Unterscheidung.

Aly beklagt, „daß es trotz intensiver Suche nur selten gelingt, private Briefe und Tagebücher arischer Deutscher zu finden, in denen die Verfasser die Judenverfolgung (...) kommentieren“. Diese Klage verschlägt fast den Atem. Hunderte „Arier“ haben nachweislich die Judenverfolgung kommentiert. Doch Aly nimmt davon ebenso wie von Aussagen vieler Juden kaum Notiz. Victor Klemperers Tagebuch fehlt zwar nicht im Literaturverzeichnis. Wer aber eine der aussagekräftigen Bekundungen des Dresdner Literaturwissenschaftlers bei Aly nachspürt, sucht vergebens. Offenbar passen die hautnah gewonnenen Einsichten des in Dresden lebenden Juden nicht ins Konzept, so Worte wie: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“

Nur jene Zitate kommen vor, die Alys These auch stützen

Aly zitiert die Berliner Ärztin Hertha Nathorff. Der Text verrät aber nur, wie schon im April 1933 eine ärztliche Standesorganisation den Wünschen der neuen Machthaber entsprach. Ob die Mehrheit der Ärzte aus Feigheit oder aus Begeisterung mitlief, bleibt ungeprüft. Die letzte Kassensprechstunde darf Nathorff am 30. Juni 1933 abhalten. Beliebtheit und Dankbarkeit finden sichtbaren Ausdruck und beweisen, daß längst nicht alle der antisemitischen Hetze zum Opfer gefallen waren: „Meine Wohnung gleicht einem blühenden Garten. Abschiedsblumen.“ Was drückt diese Anteilnahme aus, wenn nicht Vertrauen zur ehemaligen Ärztin?

In Wien stellten 1938 die Juden 65 Prozent der Ärzteschaft, „in Berlin machten sie zeitweise ein Drittel der Ärzte aus“, stellt eine fachwissenschaftliche Untersuchung fest. In anderen deutschen Städten dürfte es wohl ähnlich gewesen sein. Aly berichtet, daß in Karlsbad von 160 Ärzten 120 Juden gewesen sind. Dabei gilt jedoch zu bedenken, daß nicht der Arzt sich die Patienten sucht, sondern die Patienten wählen den Arzt ihres Vertrauens! Die Analyse der genannten Zahlen offenbart das große Vertrauen eines hohen Prozentsatzes der Deutschen gegenüber Juden, ein Phänomen, das der Annahme eines lange eingefressenen Antisemitismus aller Schichten, wie von Aly behauptet, gänzlich widerstreitet.

Doch seine unfundierte pauschale Anschuldigung ist gefragt. In einer Rezension in der FAZ nannte der Historiker Hans-Ulrich Wehler Alys Buch vor einigen Wochen einen klassischen „‘Flop’, der zentrale Elemente nicht einmal ins Auge faßt“. So ist es.

 

Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaften an der Universität Bayreuth. Im Jahr 2010 veröffentlichte er im Münchner Olzog-Verlag das Buch „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen.“

Foto: Von nationalsozialistischen Agitateuren überklebte Praxisschilder jüdischer Ärzte, April 1933: Die Reaktion vieler Patienten bewies, daß längst nicht alle der antisemitischen Hetze zum Opfer gefallen waren

Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhaß – 1800 bis 1933. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, gebunden, 352 Seiten, 22,95 Euro

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